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„Berufsbildungspolitisch nach vorne schauen“

BIBB-Präsident Esser zu möglichen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Berufsbildung

Die Welt steht still, das Coronavirus hält sie fest im Griff. Mit zunehmender Dauer werden die Folgen und die sich daraus ergebenden Herausforderungen in Deutschland für Wirtschaft und Gesellschaft immer deutlicher. Auch das Berufsbildungssystem wird davon nicht verschont bleiben. In einem Interview gibt der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Friedrich Hubert Esser, eine erste Einschätzung, was in den nächsten Monaten auf den Bereich der Berufsausbildung zukommen könnte.

„Berufsbildungspolitisch nach vorne schauen“

Herr Esser, wie wird sich die Corona-Krise auf die Ausbildung in Deutschland auswirken?

In vielen Betrieben ruht momentan die Arbeit und damit auch die Ausbildung. Berufsschulen dürfen zurzeit keinen Präsenzunterricht anbieten, die überbetrieblichen Bildungszentren bleiben ebenfalls geschlossen. Ganz aktuell zeichnet sich das Problem ab, die bevorstehenden Abschlussprüfungen nicht fristgerecht durchführen zu können. Unsere zu Beginn dieses Jahres ermittelten Einschätzungen zur Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt werden wir in jedem Fall anpassen müssen, da eine andere wirtschaftliche Ausgangssituation zugrunde lag.

Die Vorausschau des BIBB auf die Ausbildungsmarktentwicklung 2020 war eher verhalten. Inwiefern wird sich die Situation jetzt noch verschärfen?

Aufgrund anhaltender Studierneigung, massiver digitalisierungsbedingter Veränderungen in weiten Teilen der Wirtschaft sowie der demografischen Entwicklung gingen wir zu Beginn des Jahres davon aus, dass sich die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze um etwa 10.000 reduzieren und die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen um etwa 14.000 sinken würde. Damit verbunden, so unsere Annahme, wäre ein Rückgang der unbesetzten Ausbildungsplätze zu erwarten gewesen. Doch diese Prognosen sind angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Ausbreitung des Coronavirus nicht mehr haltbar.

Welche Prognose haben Sie unter den aktuellen Rahmenbedingungen denn jetzt für den Ausbildungsmarkt 2020?

Betrachten wir zunächst die ökonomische Lage. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beschreibt in seinem Sondergutachten anlässlich der Corona-Krise drei mögliche Szenarien. Kurz vor Ostern müssen wir leider konstatieren, dass das beschriebene Basisszenario, das ein Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um 2,8 % für das Jahr 2020 beschreibt, als nicht mehr realistisch erscheint, denn bereits jetzt ist offensichtlich, dass die ökonomischen Folgen der auferlegten Einschränkungen sehr massiv sind und immer noch nicht absehbar ist, wann diese Einschränkungen, zumindest in Teilen, zurückgenommen werden können. Von daher müssen wir davon ausgehen, dass sich das betriebliche Angebot an Ausbildungsplätzen stärker reduzieren wird als wir es mit bis zu 10.000 Plätzen Anfang des Jahres vermutet haben. Zu befürchten ist ebenso, dass die krisenbedingten Ausbildungsplatzverluste größer sein werden als bei der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. Viele Kleinbetriebe kämpfen mit zunehmender Dauer des hohen Infektionsrisikos und den damit verbundenen gesundheitspolitischen Gegenmaßnahmen um ihr Überleben. Gerade auch hier ist nicht auszuschließen, dass die Einbrüche bei der Ausbildungsbereitschaft besonders stark sein werden - mit allen Folgen für die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge in diesem Jahr. 

Die letzte tiefgreifende Rezession gab es in der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008. Welche Erfahrungen aus dieser Zeit können wir auf heute übertragen?

Ja, es gibt Erfahrungen, die die Berufsbildungspolitik im Zuge der damaligen Finanz- und Wirtschaftskrise machen konnte. Schauen wir auf 2008 und 2009 zurück, so schrumpfte die Wirtschaft damals um etwa 5,7 Prozent. Im Jahresvergleich verzeichneten wir einen deutlichen Rückgang an neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen von rund 50.000. Wir müssen jedoch vorsichtig sein, den Rückgang bei den Ausbildungsverträgen einzig und allein auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurückführen zu wollen. Hier spielen sicher noch andere Determinanten mit, zumal in den Folgejahren der Wert aus dem Jahr 2008 nicht mehr erreicht wurde.

Aber zurück zu Ihrer Frage, was wurde getan? Die Wirtschaftspolitik reagierte unter anderem mit der breitflächigen Gewährung von Kurzarbeitergeld und setzte mit zwei Konjunkturpaketen wichtige Impulse für die Wiederauffrischung der wirtschaftlichen Tätigkeit in Deutschland. Ausbildungspolitisch wurde ebenso kräftig nachgeholfen: Neben den vielen Pakt-Aktivitäten auf Bundes- und Länderebene wurde insbesondere der Ausbildungsbonus ins Leben gerufen und die sogenannte Einstiegsqualifizierung gefördert, die vor allem Jugendlichen mit Startschwierigkeiten helfen sollte, auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten einen Weg ins Ausbildungssystem zu finden. Die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan setzte überdies mit der Initiierung sowohl des Berufsorientierungs- als auch des Bildungskettenprogramms bedeutsame berufsbildungspolitische Akzente.

All diese Initiativen trugen letztendlich dazu bei, dass sich die deutsche Wirtschaft viel schneller erholte als in vielen anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas. Rückbezüge dieser Art sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten, da die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 mit Bezug auf ihren Ursprung im Bankensektor und ihrer Wirkung in Wirtschaft und Gesellschaft hinein kaum mit der Corona-Krise vergleichbar ist.

Wir können heute noch nicht abschätzen, wie lange sich die Corona-Krise hinziehen wird. Was passiert, wenn diese Phase länger andauert?

Je länger die Corona-Krise anhält, je länger dadurch weite Teile der Wirtschaft ausgebremst bleiben, desto tiefgreifender werden die ökonomischen Folgeprobleme werden. Für Deutschland als exportorientiertes Land ist zudem die weltweite Entwicklung besonders bedeutsam. Es besteht die Gefahr, dass mögliche verharrende Rezessionen in anderen Ländern sich negativ auf die nationalen Bemühungen einer konjunkturellen Erholung auswirken können. In der Folge würde die Ausbildungssituation zwangsläufig ebenso problematisch bleiben. Von daher ist es umso wichtiger, daran zu denken, was jetzt und in Zukunft zu tun ist, um die sich abzeichnenden Probleme abmildern beziehungsweise lösen zu können.

Wir müssen darauf achtgeben, dass die Anzahl junger Menschen ohne Ausbildung beziehungsweise Ausbildungsalternative nicht zunimmt.

BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser

Was kann konkret für Auszubildende in Deutschland getan werden?

Wichtig ist jetzt, dass alle Akteure in der beruflichen Bildung dafür Sorge tragen, möglichst allen Auszubildenden, die zum aktuellen Prüfungsjahrgang zählen, noch in diesem Jahr die Möglichkeit der Prüfung zu eröffnen. Damit steht das Prüfungssystem vor einer sehr großen Herausforderung und verdient deshalb jedwede Unterstützung aller maßgeblichen Stakeholder. Für die Funktionalität des Ausbildungsmarktes ist es ebenso wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die Schulabschlussprüfungen in den Ländern noch im auslaufenden Schuljahr 2019/2020 erfolgen können. Die Kultusministerkonferenz hat ja bereits signalisiert, dass die Bundesländer das schaffen wollen.

Da die wirtschaftliche Entwicklung eine maßgebliche Größe für die Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt ist, werden neben den bereits aktivierten Schutzschirmen und dem Kurzarbeitergeld sicherlich konjunkturstimulierende Maßnahmen zu erwarten sein, wenn die Einschränkungen für die Betriebe von der Politik wieder zurückgenommen werden.

Flankierend sollte die Berufsbildungspolitik prüfen, inwiefern krisenerprobte Instrumente wie der Ausbildungsbonus, der ein finanzieller Anreiz für die Bereitstellung betrieblicher Ausbildungsplätze ist, eine problemadäquate Lösung sein kann. Wir müssen darauf achtgeben, dass die Anzahl junger Menschen ohne Ausbildung beziehungsweise Ausbildungsalternative nicht zunimmt. Von daher werden sicherlich bewährte Instrumente, wie die Einstiegsqualifizierung und die Assistierte Ausbildung, zum Instrumentenkasten berufsbildungspolitischer Maßnahmen gehören müssen. Nicht zuletzt gilt es einmal mehr, mit ausbildungsimagefördernden Initiativen in den Branchen und bei jenen Betrieben zu helfen und zu unterstützen, die aktuell von der Corona-Krise besonders betroffen sind.

Was bedeutet die Corona-Krise für Berufsschulen und überbetriebliche Bildungszentren?

Gut funktionierende Berufsschulen und überbetriebliche Bildungszentren tragen in hohem Maße zum hohen qualitativen Ausbildungsstandard in Deutschland bei und sind deshalb auch für den Neustart sehr wichtig. Überbetriebliche Bildungszentren werden oftmals wie Wirtschaftsbetriebe geführt und sind aktuell von den gesundheitspolitischen Gegenmaßnahmen betroffen, nicht wenige von ihnen – unverschuldet – in ihrer Existenz bedroht. Auch hier kann die Empfehlung nur lauten, von Bund- und Länderseite alles dafür zu tun, dass das für ein gut funktionierendes Ausbildungssystem erforderliche bundesweite Netz von überbetrieblichen Bildungs- und Kompetenzzentren erhalten bleibt. Dazu werden sicher auch die zurzeit geltenden Auszahlungsmodalitäten für die Zuschuss- und Fördermittel, wie auch die Fördersätze, zu überdenken sein.

Herr Esser, was wird als Aufgaben auf das BIBB zukommen?

Das BIBB wird in seiner bewährten Wissenschafts-Politik-Praxis-Kommunikation gemeinsam mit den Wirtschaftsorganisationen, den Gewerkschaften sowie den zuständigen Ministerien auf Bundes- und Länderebene dafür Sorge tragen, dass die laufenden Projekte zur Neuordnung von Ausbildungsberufen fortgesetzt und die neugeordneten Berufe zum 1. August 2020 an den Start gehen können. Zum Glück steht die Arbeit im BIBB zurzeit nicht still, da wir viele unserer Aufgaben weitgehend auch im Homeoffice erledigen können. Jetzt kommen uns die Anstrengungen zugute, die wir in den vergangenen Monaten unternommen haben, um zum Beispiel in Sachen eGovernment voranzukommen. Außerdem erproben wir seit einem guten Jahr Modelle der Flexibilisierung unserer Arbeit, wobei Homeoffice beziehungsweise mobile Arbeit mittlerweile geübte Varianten sind, von denen wir zurzeit besonders profitieren. 

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden auch anderswo ins Homeoffice geschickt. Schulen führen digitales Lernen ein. Werden sich durch die Corona-Krise die Arbeitswelt und damit auch die Ausbildungswelt dauerhaft verändern?

Wie wir werden selbstverständlich auch viele andere Betriebe beziehungsweise Organisationen weitergehende Erfahrungen mit Homeoffice oder anderen Formen der Flexibilisierung der Arbeit machen. Ich würde daraus keine generellen Erkenntnisse ableiten wollen. Jeder Betrieb, jede Organisation muss daraus eigene Schlüsse für die Zukunft ziehen. Unsere Erfahrung ist bislang auf jeden Fall positiv. Zurzeit erfahren wir in den unterschiedlichsten Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft eine gesteigerte Akzeptanz, verfügbare digitale Medien als Hilfsmittel beziehungsweise Begegnungsersatz für die Kommunikation zu nutzen, sei es geschäftlich, dienstlich oder privat. Das, was vor einem halben Jahr per Telefon- oder Videokonferenz zu verhandeln noch als völlig undenkbar erschien, ist auf einmal möglich. In vielen Schulen machen sich Lehrende auf, den ausgefallenen Unterricht über Angebote auf Lernplattformen oder im direkten digitalen Austausch mit ihren Schülerinnen und Schülern zumindest zum Teil zu kompensieren. Durch Ausprobieren lassen sich Berührungsängste abbauen, und der Digitalpakt wird sicher dadurch noch einmal einen zusätzlichen Schwung erhalten, was auch für unsere Berufsschulen gut sein wird.

Herr Esser, vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Ute Zander, Leiterin der Stabsstelle Online-Kommunikation und Wissensmanagement im BIBB.