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Deutsch-Französischer Dialog: Berufsbildung, Fachkräftebedarf und Energiewende

BIBB-Präsident Esser reiste zu Fachgesprächen mit Politik und Praxis nach Paris

24.11.2022

Im Mittelpunkt eines mehrtägigen Besuchs von BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser im November 2022 in Paris stand der Austausch mit Vertreter/-innen aus Politik und Praxis über die großen transformatorischen Herausforderungen in der beruflichen Bildung: Energiewende, demografischer Wandel, Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

Deutsch-Französischer Dialog: Berufsbildung, Fachkräftebedarf und Energiewende
BIBB-Präsident Esser spricht vor Studierenden der Université Paris Cité.

Nach einem Vortrag an der Université Paris Cité zum Thema „Fachkräftebedarf in transformationsrelevanten Berufen“ vor rund 50 Studierenden kam BIBB-Präsident Esser mit den Direktoren von „France Compétences“ und der „Chambres de Métiers de l’Artisanat – France (CMA-France)“, zwei wesentlichen Institutionen des französischen Berufsbildungssystems, zum fachlichen Austausch zusammen. Abgeschlossen wurde der deutsch-französische Dialog mit einem Informations- und Meinungsaustausch mit Vertreterinnen und Vertretern der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer (AHK) Paris. „Die Gespräche haben gezeigt, dass die Akteure der Berufsbildung im Deutsch-Französischen Dialog viel voneinander lernen können“, so BIBB-Präsident Esser. „Wir sehen in verschiedenen Bereichen der beruflichen Bildung die Möglichkeit, enger zusammenzuarbeiten und möchten den Dialog in einem geeigneten Rahmen weiterführen und uns gemeinsam den Herausforderungen der Transformation stellen.“

Die Transformation stellt Deutschland und Frankreich vor unterschiedliche Herausforderungen

v.l.n.r. Mr. Perfetti (CMA-France), Isabelle Le Mouillour (BIBB), Mr. Gondard (CMA-France) und BIBB-Präsident Esser

Der deutsch-französische Austausch machte deutlich: Die Herausforderungen, die im Zusammenhang mit den drei „D“-Transformationen (Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografischer Wandel) für Wirtschaft und Gesellschaft entstehen, stellen sich in Frankreich und in Deutschland unterschiedlich dar, insbesondere im Bereich der beruflichen Bildung. So scheint Frankreich, im Gegensatz zu Deutschland, bislang kaum vom demographischen Wandel betroffen zu sein. Auch das Thema „Energiewende“ wird in beiden Ländern unterschiedlich behandelt. Während die Regierung in Paris die Atomenergie stärken will, hat die deutsche Regierung entschieden, spätestens ab April 2023 ganz aus der Atomenergie auszusteigen. Stattdessen setzt Deutschland auf eine massive Förderung der regenerativen Energien (Wind, Solar, Biomasse), was wiederum in Frankreich eine vergleichsweise geringe Priorität hat.

Vergleicht man die Ausbildungssituation in beiden Ländern, so wird deutlich, dass in Frankreich die Zahl der Auszubildenden seit 2018 deutlich gestiegen ist. Ziel der derzeitigen Regierung ist es, die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge bis 2027 auf 1 Million anwachsen zu lassen (in 2021 wurden insgesamt 734.000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen; 2020 lag die Anzahl noch bei 531.000). Über das Instrument „Ausbildung“ möchte die französische Regierung das Ziel der Vollbeschäftigung erreichen.

Das französische Berufsbildungsgesetz von 2018

Die BIBB-Delegation am Gesprächstisch mit France Compétences : v.l.n.r. Mr Charbit, Mme Grimoldi, Mr Droumaguet (France Compétences), Fr. Le Mouillour, Prof. Esser (BIBB)

Im Jahr 2018 wurde in Frankreich ein neues Berufsbildungsgesetz verabschiedet, das u.a. das Finanzierungssystem der beruflichen Bildung reformierte. Dieses steht nun unter der Verantwortung der neu geschaffenen Institution France Compétences. Im Zuge der im Jahr 2020 gestarteten Regierungsinitiative „ein Jugendlicher, eine Lösung“ erhielten ausbildende Unternehmen eine finanzielle Unterstützung, abhängig vom Alter des Auszubildenden, von 5.000 bis 8.000 Euro pro Auszubildenden im ersten Lehrjahr. Nach Einschätzung der französischen Gesprächspartner war diese Maßnahme ein entscheidender Schritt für die Weiterentwicklung des Ausbildungsweges „par voie d‘apprentissage“. Hinzu kommt, dass sich in der Bevölkerung, also auf der Nachfrageseite des Ausbildungsmarktes, in den letzten Jahren viel mehr Jugendliche und Erwachsene für eine berufliche Ausbildung interessiert haben. Die Corona-Krise hat, wie in den Gesprächen betont wurde, zu einem Umdenken geführt. Neue Lebensentwürfe, persönliche Entfaltung und eine geregelte Work-Life-Balance haben das Interesse vieler Französinnen und Franzosen für die Berufsbildung geweckt. Von diesem Umdenken konnte laut Angaben der französischen Handwerkskammer (CMA) insbesondere auch das Handwerk profitieren.

Alle französischen Gesprächspartner waren sich einig: Der Aufschwung, den die Berufsbildung in Frankreich gerade erlebt, hängt stark mit den finanziellen Anreizen zusammen. Zusätzlich wurden jedoch auch andere Maßnahmen getroffen. Es gab Verbesserungen bei der Koordinierung der einzelnen Akteure in der beruflichen Bildung, und auch die Informations- und Beratungsangebote für Ausbildungsinteressierte wurden ausgebaut.

Ausblick

Trotz der positiven Entwicklungen seit 2018 steht auch das französische Berufsbildungssystem weiterhin vor großen Herausforderungen. Dazu zählen, nach Auffassung der französischen Gesprächspartner, u. a. die Aus- und Weiterbildungsangebote auf den unteren und höheren Qualifikationsniveaus, die Re-Industrialisierung des Standorts Frankreichs, die energetische Sanierung der öffentlichen Immobilien, die Modernisierung der Ordnungsmittel und die zielgerichtete Ausrichtung von Ausbildungsgängen am Bedarf des Arbeitsmarktes. Auch wenn das französische Berufsbildungssystem grundsätzlich als durchlässig gilt und Konzepte wie Modularisierung (bloc de compétences), Berufsfamilien oder Berufslaufbahnen im System verankert sind, müssen diese Instrumente qualitätsgesichert weiterentwickelt werden.