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"Bildungshürden für junge Migrantinnen und Migranten abbauen"

Rede des Präsidenten des Bundesinstituts für Berufsbildung Manfred Kremer

anlässlich der Fachtagung "Vielfalt in Ausbildung und Arbeit" der Koordinierungsstelle Weiterbildung und Beschäftigung e.V. zum Thema "Chancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund im beruflichen Ausbildungssystem"

Veröffentlicht: 09.05.2007 URN: urn:nbn:de:0035-0202-2

Ich bedanke mich für die Gelegenheit, hier in Hamburg über ein gesellschaftspolitisch - aber auch wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch - so wichtiges Thema wie die Integrationschancen junger Migrantinnen und Migranten in der Berufsausbildung und durch die Berufsausbildung sprechen zu können.

Hamburg - das habe ich bei der Vorbereitung auf diese Veranstaltung noch einmal deutlich wahrgenommen - ist in diesem Feld besonders aktiv, nicht zuletzt dank des persönlichen Engagements Ihres Ersten Bürgermeisters.

Auch auf Bundesebene steht unser Thema seit langem auf der Agenda. Ich erinnere nur an den immer noch lesenswerten Beschluss des Bündnisses für Arbeit zur "Aus- und Weiterbildung von jungen Migrantinnen und Migranten" aus dem Jahr 2000. Nur leider ist davon bisher nur wenig umgesetzt worden.

Und erst kürzlich hat die vom Bundesarbeitsminister geleitete Arbeitsgruppe "Bildung, Ausbildung und Ausbildungschancen" zur Vorbereitung eines Nationalen Integrationsplanes weitreichende Vorschläge und Selbstverpflichtungen der verschiedenen Akteure vorgelegt. Sie sollen zu besseren Ausbildungs- und Beschäftigungschancen der Mitbürger und Mitbürgerinnen mit Migrationshintergrund führen.

Ich wünsche mir sehr, dass mit der Schubkraft des ersten Nationalen Integrationsplanes die Umsetzung diesmal energischer vorangebracht wird.

Die Analyse der Ausgangslage, wie sie z.B. in den Berichten der Arbeitsgruppe des Nationalen Integrationsplanes dokumentiert ist, macht die Dringlichkeit des Handelns überdeutlich. Das BIBB hat zu dieser Analyse aufgrund seiner kontinuierlichen Forschungsarbeiten zur Berufsbildungsbeteiligung von Personen mit Migrationshintergrund Wesentliches beitragen können.

Herausforderungen für die Bildungspolitik

Werfen wir zunächst einen Blick auf einige Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Bildungswesens, die auch für die Berufsausbildungschancen junger Menschen mit Migrationshintergrund entscheidend sind.

Die deutsche Bevölkerung schrumpft und altert. Zahl und Anteil jüngerer Nachwuchs- und Arbeitskräfte werden nach 2010 fortlaufend sinken. Der Anteil Älterer wird insgesamt und in der Arbeitswelt erheblich wachsen.

Um die Folgen dieser demografischen Entwicklung bewältigen zu können, bedarf es erheblicher Qualifizierungsanstrengungen für Jung und Alt. Darüber hinaus brauchen wir eine beständig hohe Zahl von Zuwanderern, deren Integration vor allem durch Bildung und Qualifizierung geleistet werden muss.

Gleichzeitig wandeln sich Wirtschaft und Gesellschaft stetig und rasch. Dieser Wandel wird durch Stichworte wie Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, Informatisierung, Ökologisierung und Internationalisierung beschrieben.

Als Folge werden einfache Fach- und Hilfstätigkeiten weiter zurückgedrängt. Die Beschäftigungschancen von Menschen mit Bildungsdefiziten werden sich weiter verschlechtern. Der Bedarf an breiter und höher qualifizierten Menschen wird weiter wachsen.

Die Herausforderungen für die Bildungspolitik sind klar:

So viele Menschen wie möglich müssen so breit und so hoch qualifiziert werden wie möglich. Und diese Menschen müssen kontinuierlich weiterlernen.

Notwendig sind mehr Menschen mit breiter Allgemeinbildung und qualifizierten Berufsbildungs- und Hochschulabschlüssen. Notwendig ist eine wesentlich breitere Beteiligung Jüngerer und Älterer am stetigen Weiterlernen im gesamten Lebensverlauf, insbesondere aber während des gesamten Berufslebens.

Deshalb ist es fatal, dass die Bildungsexpansion der 70er- und 80er-Jahre zu Beginn der 90er-Jahre ins Stocken geriet. Im internationalen Vergleich stehen wir mit einer eher wachsenden Bildungsarmut beschämend schlecht da.

20 bis 25 Prozent der fünfzehnjährigen Jugendlichen erreichen wichtige Basiskompetenzen nur auf niedrigstem Niveau. Bei Schülern mit Migrationshintergrund sind es im Bundesdurchschnitt erschreckende 40 Prozent. Zu wenige junge Leute und allemal zu wenige junge Migranten erreichen bei den Basiskompetenzen hohes und höchstes Niveau. Auch weil in Deutschland der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und familiärem Umfeld besonders stark ist.

Inzwischen ist Deutschland das einzige OECD-Land, in dem das Qualifikationsniveau der jüngeren Arbeitskräfte - gemessen an den Bildungsabschlüssen - von 1991 auf 2003 gesunken ist, und eines der ganz wenigen OECD-Länder, in dem infolgedessen inzwischen die Jüngeren eher schlechter qualifiziert sind als die Älteren.

Der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss liegt stabil bei rund 8 Prozent. Bei den jungen Ausländern sind es erschreckende 17,5 Prozent.

Der Anteil der jungen Erwachsenen ohne qualifizierten Berufsabschluss ist gegenüber den 90er-Jahren eher gestiegen. Bei jungen Leuten ohne Migrationshintergrund beträgt er 15%. In der Vergleichsgruppe mit Migrationshintergrund ist dieser Anteil mit dramatischen 41% mehr als zweieinhalb mal so hoch.

Mit einem mehr oder weniger stagnierenden Anteil der Hochschulabsolventen an der gleichaltrigen Bevölkerung von gut 20 Prozent nimmt Deutschland in der OECD einen der hinteren Plätze ein. Wird berücksichtigt, dass weitere 10 Prozent hochwertige Abschlüsse der beruflichen Weiterbildung erreichen, rücken wir etwas vor, bleiben aber im unteren Viertel. Unter den Personen mit Migationshintergrund sind diese Anteile jeweils nur wenig mehr als halb so hoch.

Die Weiterbildungsbeteiligung der Beschäftigten bleibt deutlich hinter den Erfordernissen zurück. Je nach Definition, Betrachtungsweise und statistischer Grundlage liegt sie zwischen 12 Prozent und gut 40 Prozent, aber im europäischen Vergleich immer im unteren Bereich. Die Weiterbildungsbeteiligung von Personen mit Migrationshintergrund liegt jeweils noch deutlich darunter.

Das Schwerwiegendste ist aber, dass Deutschland nahezu jede Dynamik bei der Entwicklung der Bildungsbeteiligung vermissen lässt. In nahezu allen anderen
OECD-Ländern steigen diese Quoten von unterschiedlichen Ausgangsniveaus aus seit Jahren kontinuierlich an.

Vor diesem Hintergrund sind die Ziele notwendiger Reformen weitgehend klar und unbestritten. Sie werden im Nationalen Bildungsbericht und bei internationalen Vergleichen deutlich - zuletzt und erneut mit dem OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick".

Für unser Thema relevante Ziele sind:

  • Der Anteil der Jugendlichen, die in und an der Schule scheitern, muss deutlich sinken.
  • Der in Deutschland besonders starke Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg muss deutlich gelockert werden. Insbesondere müssen die Bildungschancen der Zuwanderer und ihrer Kinder, die das Land dringend braucht, nachhaltig verbessert werden.
  • Sehr viel mehr junge Menschen müssen allgemein bildende Basisfähigkeiten auf hohem und höchstem Kompetenzniveau erwerben.
  • Der Anteil junger Leute mit qualifizierter Berufs- oder Hochschulausbildung muss deutlich steigen.

Diese bei weitem nicht vollständige Liste markiert wichtige Anforderungen an die Politik, aber auch an Gesellschaft, Wirtschaft und Individuen.

Wenn Deutschland international anschluss- und wettbewerbsfähig bleiben will, wenn die Lebens- und Berufschancen der nachwachsenden Generationen nachhaltig gesichert werden sollen, dann ist eine neue Bildungsexpansion notwendig, die alle Bildungsbereiche und alle Bevölkerungsgruppen umfasst.

Diese Liste macht zugleich klar, dass über Grenzen und Spielräume der Integration Jugendlicher und junger Erwachsener in die beruflichen Bildung nicht nur im Berufsbildungssystem entschieden wird. Wirksame Berufsbildungsreformen müssen Teil einer abgestimmten und koordinierten Reform des gesamten Bildungssystems sein. Vor allem muss dafür gesorgt werden, dass Übergänge und Verbindungen an den Schnittstellen zwischen den Bildungsbereichen ohne Reibungsverluste funktionieren.

Nach dem PISA-Schock ist vieles in Gang gekommen. Diskussionen und bildungspolitische Aktivitäten drehen sich zu Recht um frühe Förderung, Ganztagsbildung, verbindliche Bildungsstandards, selbstständige Schule und Qualitätsentwicklung. Mehr und mehr gute Beispiele zeigen, wie die Ziele einer Bildungsreform erreichbar sind.

Ich hoffe sehr, dass dies alles in den nächsten Jahren auch in der notwendigen Breite an der Basis der Bildungslandschaft ankommt.

Frühe Förderung

Mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen im bildungsrelevanten Alter haben einen Migrationshintergrund. Je jünger die Altersgruppe, um so größer ist dieser Anteil. Bei den unter 6-jährigen beträgt er ein Drittel.

Die Bedeutung der Integrationsaufgabe wird deshalb - auch unabhängig vom Ausmaß weiterer Zuwanderung - noch an Bedeutung zunehmen. Integration - das heißt am Ende auch immer die Chancengleichheit - in Bildung und Ausbildung spielt dabei eine zentrale Rolle.

Gegenwärtig sind die Bildungshürden für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund aber besonders hoch. Niemand wird in Abrede stellen wollen, dass Kommunen, Länder und Bund vielfältige und auch durchaus erfolgreiche Bemühungen unternehmen, um die Integration dieser Kinder und Jugendlichen zu fördern. Gleichwohl müssen wir feststellen, dass die bisherigen Anstrengungen offensichtlich nicht ausreichen.

Benachteiligungen, Chancenungleichheiten oder mangelnder Integrationserfolg - wie immer wir den Sachverhalt, um den es hier geht, benennen wollen - beginnen dabei weit vor dem Übergang von der Schule in die Berufsausbildung.

So besucht nur ein vergleichsweise geringer Anteil der unter vierjährigen Kinder mit Migrationshintergrund eine Kindertageseinrichtung. Wir wissen aber, dass gute, frühkindliche Förderung die Bildungschancen erheblich verbessert. Weltweite Erfahrungen belegen, das dies ganz besonders für Kinder von Migranten gilt.

Die Bedeutung qualitativ hochwertiger früher Förderung und Bildung für die nachfolgenden Bildungsphasen bis hin zur Weiterbildungsfähigkeit und -bereitschaft im fortgeschrittenen Alter ist längst erkannt und gut nachgewiesen. Jeder Euro, der hier investiert wird, rentiert sich 50 bis 60 Jahre lang. Dazu tragen zum Beispiel eine geringere Kriminalitätsrate, eine erfolgreichere Bildungs- und Berufslaufbahn, ein höheres Erwerbseinkommen und damit höhere Steueraufkommen sowie bessere Gesundheit früh geförderter Kinder bei. Umgekehrt ist der volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden versäumter früher Förderung entsprechend hoch.

Gegenwärtig werden allerdings die aus diesen Einsichten folgenden Konsequenzen nur halbherzig gezogen.

Die aktuelle politische Debatte konzentriert sich zu einseitig auf die familien-, gleichstellungs- und bevölkerungspolitischen Aspekte und damit auf den Betreuungsaspekt. Gerade die Migrationsproblematik macht aber sehr deutlich, dass die bildungs- und integrationspolitische Dimension früher Bildungsförderung in den Mittelpunkt gerückt werden muss.

Wir brauchen vor allem qualitativ hochwertige frühe Bildung, wenn wir den beschämenden Zustand beenden wollen, dass Kinder aus Migrantenfamilien und aus so genannten bildungsfernen Schichten bei uns erheblich geringere Bildungschancen haben als anderswo in der Welt.

Es geht nicht nur um mehr Ganztagsbetreuungsplätze und bessere Ausstattungen, sondern vor allem auch um hoch qualifizierte Fachkräfte und hochwertige Bildungskonzepte für die frühen Bildungsphasen.

Dazu passt zum Beispiel ganz und gar nicht, dass wir an die Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen in Einrichtungen der frühen Förderung geringere Ansprüche stellen als an die Ausbildung von Grundschullehrern und dass deren Ausbildung und Arbeit - gemessen an Qualifikationsanspruch und Bezahlung - uns weniger Wert ist als z.B. die der Gymnasiallehrer.

Schon am Ende der Grundschulzeit ist auch ein im internationalen Vergleich sehr ausgeprägter Leistungsrückstand der Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund zu beobachten. Nicht die einzige, aber eine wesentliche Ursache ist, dass es uns in Deutschland wesentlich schlechter als in vergleichbaren Ländern gelingt, die Bildung dieser Kinder früh, systematisch und konsequent zu fördern und sie erfolgreich beim Erwerb der deutschen Schriftsprache und in ihrer Mehrsprachigkeit zu fördern.

Im gegliederten Schulwesen bedeutet dies, dass Kinder mit Migrationshintergrund deutlich seltener eine Realschule oder ein Gymnasium besuchen als ihre Altersgenossen ohne diesen Hintergrund. Dies wiederum trägt wesentlich dazu bei, dass ein Viertel der Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Schule besucht, in der die Mehrheit der Mitschülerinnen und Mitschüler ebenfalls einen Migrationshintergrund haben.

Als Ergebnis dieser Segregation und nicht gelingender individueller und zielgruppenspezifischer Förderung ist der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss unter den ausländischen Jugendlichen doppelt so hoch wie unter deutschen Jugendlichen.

Ich erwähne diese Fakten, weil sie für die Berufsausbildungschancen junger Migranten und Migrantinnen - und nicht nur für diese - eine schwere Hypothek sind.

Wir müssen realistisch sehen, dass eine nachhaltige Verbesserung der Berufsbildungschancen dieser jungen Leute mit erfolgreicherer Förderung im Kindergarten und in der Schule beginnt und ohne diese nur eingeschränkt gelingen kann.

Übergangsmanagement von der Schule in die Ausbildung

Mindestens in der Schule können und müssen die Berufsbildungsakteure dazu wesentliche Beiträge leisten.

Bei der Kooperation von Schulen und Betrieben zur Verbesserung von Berufsorientierung, Ausbildungsreife und Ausbildungsvorbereitung hat es in letzter Zeit auch durchaus Fortschritte gegeben. Eine flächendeckende und vorbehaltlose Kooperation aller Verantwortlichen und Beteiligten ist allerdings noch nicht in Sicht. Wirklich nachhaltige Strukturen, in denen die Ressourcen zur Berufsorientierung und Berufsausbildungsvorbereitung vor Ort in einem koordinierten regionalen "Übergangsmanagement von der Schule in die Ausbildung" und zur "Förderung aus einem Guss" gebündelt werden, gibt es bisher nicht - weder für Jugendliche mit Migrationshintergrund - noch für andere Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf.

Dazu wäre eine wesentlich intensivere und systematischere Zusammenarbeit von allgemein bildenden und beruflichen Schulen, Berufsbildungs- und Jugendhilfeeinrichtungen, Betrieben, Kammern, Arbeitsagenturen und Kommunen über Zuständigkeitsgrenzen hinweg notwendig. Die Bereitschaft, die dazu erforderlichen kompetenz- und förderrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, hält sich bei Bund und Ländern in Grenzen.

An dieser Stelle werden zwei wesentliche Erfolgsfaktoren für die Integration - und ich sage erneut: nicht nur für Jugendliche mit Migrationshintergrund in die Berufsausbildung deutlich.

  • Erstens: Wir müssen den gesamten Bildungsverlauf von der frühkindlichen Bildung bis zur Erstausbildung als zusammenhängenden Prozess der Kompetenzentwicklung begreifen und gestalten. Ob dieser Prozess ohne Brüche und kontinuierlich verläuft, hängt wesentlich davon ab, wie die verschiedenen Bildungsphasen und -bereiche insbesondere an den Schnittstellen und Übergängen zusammenwirken. Wenn wir nachhaltigen Erfolg haben wollen, dann müssen Kindergarten und Grundschule, Grundschule und weiterführende Schule, weiterführende Schule und Berufsausbildung als zusammenhängende Bildungsphasen verstanden und gestaltet werden.
  • Zweitens: Ob dies gelingt, wird wesentlich durch die Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit der Beteiligten in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Bildungswesens bestimmt. Ein bis auf die regionale und lokale Ebene reichender Zuständigkeitswirrwarr und ein auch deswegen fehlendes gemeinsames Verständnis von Bildung und Lernen in den verschiedenen Bildungsphasen behindert dies allerdings hartnäckig.
  • Noch einmal: es gibt viele gute Beispiele, aber keine Umsetzung in die Breite. Oder überpointiert und etwas polemisch ausgedrückt: Wir wissen genau, was wir tun müssen, aber zu wenige tun es mit dem notwendigen Nachdruck und mit der notwendigen Nachhaltigkeit.

"Warteschleifen"

Mangelnde Ausbildungsreife oder mindestens erhebliche Kompetenzdefizite vieler Schulabgänger sind die eine Seite des Problems. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind davon überproportional betroffen. Ein mittlerweile chronisches Unterangebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist die andere, quantitativ wohl bedeutsamere Seite der Medaille.

Daraus sollten allerdings keine Vorwürfe, an welche Adresse auch immer, abgeleitet werden. Wir rechnen realistisch für 2007 mit bis zu 600.000 neuen Ausbildungsverträgen, davon mehr als 90 Prozent betrieblich. Das ist nicht wenig und sicher kein Beleg für eine zuweilen behauptete Abwendung der Betriebe vom dualen System der Berufsausbildung. Seit 1995 sind betriebliche Ausbildungsbeteiligung und betriebliche Ausbildungsquoten relativ stabil geblieben, reichen aber seit längerem bei weitem nicht für den Ausgleich von Angebot und Nachfrage am Ausbildungsstellenmarkt aus.

Dies hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass jeweils deutlich über 40 Prozent der bei Arbeitsagenturen gemeldeten Lehrstellenbewerber und -bewerberinnen in eine mehr oder weniger akzeptierte Alternative zur betrieblichen Berufsausbildung eingemündet sind. Schätzungsweise jeweils 100.000 davon suchten gleichwohl weiter nach einem betrieblichen Ausbildungsplatz, ohne dass sie offiziell als Nachfrager erfasst werden.

Die Zahl der so genannten Altbewerber - in der BIBB-Definition sind das junge Leute, die sich mindestens zum zweiten Mal bei den Arbeitsagenturen um einen betrieblichen Ausbildungsplatz bemühen - ist deshalb in 2006 erstmals auf über 300.000 gestiegen.

Das hat dazu geführt, dass zwischen Schule und Berufsausbildung ein "Übergangssystem" expandiert ist, in dem sich in den letzten Jahren jeweils zwischen 450.000 und 500.000 Jugendliche in Bildungsgängen befinden, die überwiegend nicht zu verwertbaren Berufsabschlüssen führen. Im Berufsbildungsjargon wird deshalb vielfach von unproduktiven "Warteschleifen" gesprochen.

Von dieser nach wie vor sehr angespannten und angespannt bleibenden Situation am Ausbildungsstellenmarkt sind alle Jugendlichen, ganz besonders aber Jugendliche mit Mitgrationshintergrund betroffen.

Einige Zahlen:

Der Anteil der Auszubildenden unter den jungen Ausländern ist von 34 Prozent in 1994 auf 24 Prozent in 2005 gesunken. Die nur leicht gesunkene Ausbildungsbeteiligungsquote junger Deutscher war 2005 mit rund 58 Prozent mehr als doppelt so hoch.

Nach Befragungen des BIBB haben 2006 von den Schulabgängern mit Migrationshintergrund, die eine duale Ausbildung anstrebten, nur 40 Prozent dieses Ziel auch erreicht. Von den Schulabgängern ohne Migrationshintergrund waren es 54 Prozent.

Mit einem Anteil von rund 26 Prozent münden Ausbildungsplatzbewerber mit Migrationshintergrund überproportional häufig in das so genannte Übergangssystem. Bei Bewerbern ohne Migrationshintergrund waren es 19 Prozent.

Mehr als 20 Prozent der Ausbildungsplatzbewerber mit Migrationshintergrund fallen aus dem Bildungssystem heraus und landen in Arbeitslosigkeit oder beginnen unqualifiziert zu jobben. Bei der Vergleichsgruppe sind dies 15 Prozent.

Integrationsfähigkeit des deutschen Berufsbildungssystems

Diese Zahlen belegen schwerwiegende Chancenbarrieren für junge Migranten beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung.

Sicher ist dies auch eine Konsequenz misslungener Integration in den vorgelagerten Bildungsphasen. Aber nicht nur, wie Untersuchungen des BIBB belegen.

Auch wenn Gruppen mit gleichen Schulabschlüssen, ähnlichen Schulleistungen und vergleichbarer Suchintensität verglichen werden, gibt es deutliche Chancenunterschiede.

Nur 25 Prozent der bei den Agenturen gemeldeten jungen Migranten mit Hauptschulabschluss finden einen Ausbildungsplatz. Von den Hauptschulabsolventen ohne Migrationshintergrund schaffen dies 29 Prozent.
Bei Realschulabsolventen lauten diese Vergleichswerte 34 Prozent zu 47 Prozent.

Von den Migranten mit guten Mathematiknoten - offensichtlich ein harter Indikator für Erfolg bei der Ausbildungsplatzsuche - münden 41 Prozent in eine betriebliche Ausbildung ein. In der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund sind es 64 Prozent.

Dieses Bild ist klar. Höhere Schulabschlüsse und gute Schulleistungen wirken sich auf die Ausbildungschancen junger Migranten nicht nur erheblich weniger stark aus als bei der deutschen Vergleichsgruppe. Auch der "Chancenzuwachs" - etwa durch einen Realschulabschluss oder gute Schulleistungen - ist bei jungen Migranten deutlich geringer als bei der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund.

Die deutlichen Chancenunterschiede sind deshalb nicht nur mit den im Durchschnitt schlechteren schulischen Abschlüssen und Leistungen junger Migranten zu erklären.

Die Frage, welche Faktoren diese Diskriminierung bewirken, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht abschließend klären.

Diskutiert werden zum Beispiel die Bedeutung von sozialen Netzwerken bei der Suche nach Ausbildungsplätzen, die vermutlich kulturell nicht neutralen Einstellungstests der Betriebe sowie - zumeist unbewusste, im Ergebnis aber diskriminierende - Benachteiligungen bei der Bewertung von Bewerbsunterlagen und Bewerbungsgesprächen.

Die Verdrängungsprozesse am Markt der knappen Lehrstellen treffen junge Migranten deshalb besonders stark.

Die berufliche Qualifizierung junger Migranten - so das Fazit - ist noch kein selbstverständlicher Bestandteil des Bildungssystems. Der Mangel an Ausbildungschancen trägt eher zur Desintegration bei und verursacht deshalb gesellschaftliche Kosten, die über die Kosten eines Fachkräftemangels deutlich hinausgehen.

Die zu Recht viel gelobte Integrationsfähigkeit des deutschen Berufsbildungssystems hat an dieser Stelle ihre Nagelprobe noch nicht bestanden.

BIBB-Vorschläge im Zusammenhang mit einem Nationalen Integrationsplan

Das BIBB hat in seinem Gutachten für die Arbeitsgruppe "Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarktchancen" zur Vorbereitung des Nationalen Integrationsplanes eine Reihe von Vorschlägen für aufeinander abgestimmte, differenzierte und umfassende Förderaktivitäten gemacht. Sie könnten zur besseren Integration junger Migranten in das duale System der Berufsausbildung beitragen.

Wir betonen dabei zugleich aber die besondere Bedeutung früher und intensiver Berufsorientierung und berufspraktischer Förderung in der allgemein bildenden Schule.

Auf der Grundlage der Erfahrungen der Beruflichen Qualifizierungsnetze (BQN) empfehlen wir eine Initiative zur Sensibilisierung von Personalverantwortlichen für ethnisch und kulturell neutrale Verfahren bei der Bewertung der Eignung von Bewerberinnen und Bewerbern mit Migrationshintergrund.

Wir fordern, die besonderen Belange von Migranten bei den Angeboten der beruflichen Grundbildung besser zu berücksichtigen und wo immer möglich, diese Maßnahmen auf anschluss- und anrechnungsfähige Ausbildungselemente zu fokussieren.

Wir empfehlen die Förderung vollqualifizierender Ausbildung von jungen Migranten in einem bundesweiten und betriebsnah durchgeführten Ausbildungsprogramm beziehungsweise migrantenspezifische Förderelemente in den bestehenden und gegenwärtig geplanten Programmen und Initiativen zur Mobilisierung betrieblicher Ausbildungsplätze sowie zur abschlussbezogenen Berufsausbildung in anderen Ausbildungsformen.

Wir halten es für notwendig, die migrantenspezifisch ausgerichteten Aktivitäten zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen einschließlich eines differenzierten Einsatzes ausbildungsbegleitender Hilfen deutlich zu verstärken.

Wir schlagen eine bundesweite Initiative zur konsequenten modularen und beschäftigungsbegleitenden Nachqualifizierung von jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss vor mit einer migrantenspezifisch ausgerichteten Förderlinie.

Wir empfehlen klare Regelungen zur Anerkennung und gegebenenfalls auch Anrechnung von schulischen und beruflichen Abschlüssen aus den Herkunftsländern.

Schließlich empfehlen wir, die interkulturellen Potenziale und Kompetenzen, die junge Migranten sehr häufig in eine Berufsausbildung mitbringen, sehr viel stärker zu nutzen und zu fördern und zugleich Betrieben den Wert dieser Kompetenzen deutlicher zu machen.

Ich weiß, dass dieser umfassende Vorschlag in Zeiten knapper Kassen ein sehr anspruchvolles Paket ist. Ich weiß aber auch, dass die Kosten erheblich höher sein werden, wenn wir weiter abwarten.

Und ich bin sicher, dass eine derart umfassende Initiative für die Berufsausbildung junger Migranten unerlässlich ist, wenn wir die mit dem Nationalen Integrationsplan gesetzten Ziele tatsächlich erreichen wollen.

Weiterführende Informationen im Internet

Informationen zur Fachtagung "Vielfalt in Ausbildung und Arbeit"
im Internetangebot der KWB - Koordinierungsstelle Weiterbildung und Beschäftigung e.V.

Erscheinungsdatum, Hinweis Deutsche Nationalbibliothek

Veröffentlichung im Internet: 09.05.2007

URN: urn:nbn:de:0035-0202-2

Die Deutsche Nationalbibliothek hat die Netzpublikation "Bildungshürden für junge Migrantinnen und Migranten abbauen" archiviert.
Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar.

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