BP:

Schlagworte A-Z. Bitte wählen Sie einen Anfangsbuchstaben:

 

Zukunftsfähig bleiben!

9 + 1 Thesen für eine bessere Berufsbildung

06.04.2022

Die Zukunft Deutschlands ist durch gesellschaftliche Umwälzungen geprägt, die vor allem mit Stichworten wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Klimawandel und Energiewende umschrieben werden. In Wirtschaft und Gesellschaft drängen sich deshalb umso mehr Fragen danach auf, wie der damit gekennzeichnete Strukturwandel zu bewältigen ist. Zukunftsfähigkeit – auch der Gesellschaft – scheint ohne ein ausreichendes Quantum an Fachkräften nicht möglich, wofür zwingend eine starke Berufsbildung benötigt wird.

Zukunftsfähig bleiben!

Der Weg über eine berufliche Ausbildung in eine sichere berufliche Tätigkeit oder in die Selbstständigkeit – jahrzehntelang Garant für ein Ankommen in der bürgerlichen Mitte in Deutschland – scheint jedoch nur noch wenig attraktiv und immer weniger zukunftsfähig zu sein, wie die Entwicklung der Ausbildungsvertragszahlen in den letzten Jahren unmissverständlich dokumentiert. Die Ursachen dafür sind vielfältig, wobei die demografische Entwicklung und der Bildungstrend in der Gesellschaft besonders bedeutsam für eine sich zunehmend entwickelnde Schieflage in den Rekrutierungsmöglichkeiten und -bedingungen der Betriebe sind.

Der daraus resultierende Fachkräftemangel gefährdet mittlerweile auch die großen Ziele, die sich die neue Bundesregierung im Rahmen der Transformation gesetzt hat. Damit stellt sich nicht nur die Frage nach der Attraktivität beruflicher Bildung an sich, sondern auch die Frage danach, ob das Angebot an Aus-, Fort- und Weiterbildung in Deutschland den gestiegenen Anforderungen einer dynamischen, sich zunehmend digitalisierenden Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt noch genügt.

Berufliche Bildung muss dazu beitragen, die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu bewältigen. Dazu gehören vor allem die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, der demografische Wandel und das veränderte Bildungswahlverhalten wie auch der Klimawandel, die Energiewende und die Umgestaltung zu einer nachhaltigen Wirtschaft und die Internationalisierung.

Geleitet von Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), und Prof. Dr. Karl Wilbers, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), hat sich eine interdisziplinär ausgerichtete siebenköpfige Arbeitsgruppe zusammengefunden mit dem Ziel, grundlegende Vorschläge für eine zukunftsausgerichtete berufliche Bildung zu erarbeiten.

v.l.n.r.: Dr. Thomas Leuchtenmüller, Prof. Dr. Hubert Ertl, Prof. Dr. Lars Windelband, Prof. Dr. Taiga Brahm, Prof. Dr. Karl Wilbers, Prof. Dr. Birgit Reißig, Prof. Dr. Dietmar Frommberger, Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser

Dabei wurde weniger dem Anspruch gefolgt, möglichst alle Problembereiche bearbeiten zu wollen. Vielmehr ging es der Arbeitsgruppe um die für sie besonders bedeutsamen Baustellen und damit verbundene Reflexionsnotwendigkeiten sowie Handlungsempfehlungen, die vor allem an die Bildungspolitik adressiert sind.

Diese Handlungsempfehlungen werden aus 9 Thesen abgeleitet, die verschiedenen Bildungsphasen zugeordnet und jeweils mit wissenschaftsbasierten Stützargumenten angereichert sind. Basis dieser 9 Thesen sind grundlegende Prinzipien, die eine moderne Berufsbildung ausmachen. Auf diese hat sich die Gruppe der Expertinnen und Experten normativ verständigt. Sie umfassen wesentliche, zu bewahrende Merkmale des Status quo der Berufsbildung, aber auch weiterführende Vorschläge. Diese Prinzipien werden den 9 Thesen als +1-Komponente vorangestellt.

Angesichts der Bedingungslage und der Herausforderungen, die die Transformation mit sich bringt, muss die berufliche Bildung zwingend zukunftsfester werden. Wir dürfen uns dabei nicht scheuen, auch neue Wege zu gehen!

BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser

Prinzipien moderner Berufsbildung

  1. Berufliche Bildung hat vielfältige Funktionen.
  2. Berufliche Bildung orientiert sich an Arbeits- und Geschäftsprozessen und fördert gleichermaßen Entre- und Intrapreneurship.
  3. Berufliche Bildung unterstützt den Strukturwandel.
  4. Berufliche Bildung sichert die individuelle Entwicklung und Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft und erschließt alle Qualifizierungspotenziale.
  5. Das Berufsprinzip ist das Strukturmerkmal der beruflichen Bildung.
  6. Lehren und Lernen erfolgen nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in anderen Phasen der Berufsbildung möglichst dual.
  7. Hybride Berufsbildung kombiniert Lehren und Lernen in Distanz und Präsenz.
  8. Unterschiedliche Berufsbildungsphasen sind in Berufslaufbahnkonzepten systemisch verbunden.
  9. Der Deutsche Qualifikationsrahmen ist als Referenzrahmen für berufliche Bildung verbindlich anerkannt und sichtbar umgesetzt.
  10. Berufliche Bildungsgänge sind modular strukturiert.
  11. Lernfortschritte motivieren und sind deshalb in der beruflichen Bildung sichtbar.
  12. Berufsbildung wird von qualifiziertem Bildungspersonal und angemessener Ausstattung getragen.
  13. In der beruflichen Bildung haben Sozialpartner eine tragende Rolle.
  14. In der beruflichen Bildung sind die Lasten fair verteilt.

Das Ziel der Arbeitsgruppe 9+1 ist es, wissenschaftlich gut gestützte und konkrete Hinweise zur Weiterentwicklung der Berufsbildung vorzulegen, und zwar in der ganzen Breite.

Prof. Dr. Karl Wilbers

These I: Berufliche Orientierung

Berufliche Orientierungsphasen stellen in einer komplexer werdenden Arbeitswelt betroffene Individuen und begleitende Institutionen vor Herausforderungen und sind zunehmend ein biografisches Langzeitprojekt.

Berufsorientierung entfaltet dann ihr Potenzial, wenn sie als gendersensibler ganzheitlicher Prozess verstanden wird, in dem die einschlägigen Maßnahmen stärker miteinander vernetzt und von Beginn an an Berufslaufbahnkonzepten orientiert werden.

These II: Berufliche Bildung im Übergangssystem

Die direkten Übergänge aus der allgemeinbildenden Schule in eine berufliche Ausbildung sind für einen stabil vorhandenen Anteil junger Menschen verschlossen und führen in die heterogenen Angebote des Übergangssystems.

Durch die Positionierung als Chancenverbesserungssystem in der beruflichen Bildung erfährt das Übergangssystem eine Aufwertung als sinnvoller Zwischenschritt in die Berufsausbildung.

These III: Berufsausbildung gemäß Berufsbildungsgesetz bzw. Handwerksordnung

Die duale Berufsausbildung gemäß Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung verliert an Attraktivität, die Nachfrage und das Angebot sinken und die Passungsprobleme wachsen.

Die Zukunftsfähigkeit der Berufsausbildung wird gesichert durch eine flexiblere, zielgruppenorientiertere und motivierende Berufsausbildung mit einer fairen Verteilung der Lasten.

These IV: Spezieller Fokus - Die Berufsbildung im Bereich der Pflege

Im Zusammenhang mit der generalistischen Pflegeausbildung fehlen insbesondere transparente und durchlässige Qualifizierungskonzepte für ein bedarfsgerechtes und versorgungssicheres Pflegesystem.

Die Attraktivität von Aus- und Fortbildung im Bereich der Pflege wird durch ein bundesweit geregeltes, bildungsbereichsübergreifendes Berufslaufbahnkonzept erhöht, das transparente und durchlässige Karrierewege auf der Grundlage eines professionellen Pflegeverständnisses ermöglicht.

These V: Formale berufliche Weiterbildung

Die formale berufliche Weiterbildung genügt derzeit ihrem gesetzlich zugewiesenen Anspruch einer höherqualifizierenden Berufsbildung in Deutschland nur unzureichend.

Formale berufliche Weiterbildung, hier verstanden als Fortsetzung der Ausbildungsphase (berufliche Fortbildung), gewinnt an Attraktivität, wenn sie durch konsequente Modularisierung, Dualisierung, eine bessere Verknüpfung mit der Berufsausbildung und durch eine neue Rolle beruflicher Schulen im Zusammenspiel der unterschiedlichen Stakeholder entlang von Berufslaufbahnkonzepten als eigenständiger beruflicher Bildungsweg gestärkt wird.

These VI: Non-formale berufliche Weiterbildung

Die gesellschaftlichen Herausforderungen bedingen tiefgreifende Anpassungsprozesse in der Arbeits- und Berufswelt, denen mit der derzeitigen Weiterbildungsdynamik nur unzureichend entsprochen wird.

Das Weiterbildungssystem der Zukunft zeichnet sich dadurch aus, dass es den individuellen Erwartungen und Ansprüchen an eine berufsbegleitend, flexibel und hybrid organisierte Kompetenzentwicklung im Lebens- und Erwerbsverlauf uneingeschränkt genügt.

These VII: Übergänge zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung

Berufliche und hochschulische Bildung sind traditionell getrennte Bildungsbereiche, die unzureichend miteinander verbunden sind. Gleichzeitig differenzieren sich die Angebote der beruflichen und hochschulischen Bildung aus.

Berufliche und hochschulische Bildung bleiben jeweils eigenständige Systeme. Die Gewinnung eines höheren Durchlässigkeitsniveaus zwischen ihnen wird durch die Weiterentwicklung der Übergänge erreicht.

These VIII: Qualifizierung des beruflichen Bildungspersonals

Den erhöhten Anforderungen an das Bildungspersonal genügen die derzeitigen formalen Standardangebote zur Weiterbildung nicht.

Eine Unterstützung des beruflichen Bildungspersonals, die den Herausforderungen gerecht wird, gelingt dadurch, dass das formale Weiterbildungsangebot durch ein niedrigschwelliges und passgenaueres non-formales Angebot erweitert wird, das insbesondere über digitale Medien verfügbar ist.

These IX: Entrepreneurship & Intrapreneurship These

Die Gründungsquote ist niedrig und sinkt seit Jahren. Entrepreneurship sowie Intrapreneurship werden bislang nicht hinreichend durch die Bildung gefördert.

Eine sich durch die systematische Förderung von Entre- und Intrapreneurship auszeichnende berufliche Bildung wirkt sich positiv auf die Förderung eines Gründungsgeistes in Deutschland und dann auch auf die Entwicklung der Gründungsquote aus.