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Zur Berufsorientierung von Jugendlichen mit Migrations­hintergrund liegt eine Reihe von Untersuchungen vor, insbesondere zu ihren Bildungszielen (vgl. Beicht 2015); hierüber wurde bereits berichtet (vgl. BIBB-Datenreport 2013, Kapitel A4.9).

Migranten und Migrantinnen haben generell eine höhere Bildungsaspiration als Einheimische, so die Ergebnisse einer OECD-Studie für alle dort untersuchten Staaten (Organisation for Economic Co-operation and Development 2006). Auch in Deutschland haben Familien mit Zuwanderungsgeschichte eine hohe Bildungsmotivation (Soremski 2010). Obwohl Migrantenfamilien häufiger einen ungünstigeren sozialen Status aufweisen, sind sie meistens stark bildungsorientiert – anders als ein Teil der Familien ohne Migrationshintergrund bei vergleichbarem sozialem Status (Soremski 2010). Im Mittelpunkt der Bildungsaspirationen steht dabei „das Ziel des sozialen Aufstiegs, das oft mit sehr viel Durchhalte­willen und Bereitschaft zum Entbehren verfolgt wird“ (Mey 2009, S. 9). Aufgrund eingeschränkter eigener Chancen beim Zugang zu Bildung und Beruf neigen Eltern der ersten Generation dazu, den sozialen Aufstieg auf die nachfolgende Generation zu „verschieben“ (Relikowski/Yilmaz/Blossfeld 2012). Die ausgeprägte Bildungsorientierung in Migrantenfamilien, die mit hohen Erwartungen der Eltern an ihre Kinder gekoppelt ist, bezieht sich gleichermaßen auf Söhne und Töchter (Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2006) und betrifft – auch bei einer ungünstigen sozialen Lage – alle Bildungsübergänge der Kinder (vgl. BIBB-Datenreport 2013, Kapitel A4.9; Granato 2013).

Heranwachsende mit und ohne Migrationshintergrund, junge Frauen wie junge Männer, sind an qualifizierter Ausbildung und Erfolg im Beruf interessiert, wobei eine Vielfalt von Vorstellungen darüber existiert, wie die jeweiligen Bildungs- und Berufsziele erreicht werden können (Beicht 2015; Beicht/Gei 2015; Schittenhelm 2007).

Jugendliche haben unterschiedliche Vorstellungen über ihren künftigen Beruf. Zu den Erwartungen der Schüler/-innen allgemeinbildender Schulen mit Migra­tionshintergrund über ihren zukünftigen Beruf existieren vereinzelt Untersuchungsergebnisse. Bei Hauptschülern und Hauptschülerinnen mit Migrationshintergrund, die sich im letzten Schuljahr befinden, hat die Sicherheit des künftigen Arbeitsplatzes mit 95 % Zustimmung den höchsten Stellenwert bei ihrer Berufswahl. Die Chance auf einen Ausbildungsplatz und der Verdienst im künftigen Beruf werden von jeweils (knapp) 90 % als wichtig erachtet. Sehr verbreitet ist auch der Wunsch, dass Ausbildung und Beruf genügend Zeit für die Familie lassen (Gaupp/Lex/Reißig 2011). Für Gymnasiasten und Gymnasiastinnen mit und ohne Migrationshintergrund (MH) – ebenfalls im letzten Schuljahr – ist die Verwirklichung eigener Interessen (mit MH 91 %, ohne MH 91 %) sowie ein sicherer Arbeitsplatz (mit MH 98 %, ohne MH 86 %) häufig sehr bedeutsam. Karrieremöglichkeiten stellen für 72 % der Gymnasiasten/Gymnasiastinnen mit Migrationshintergrund und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für 66 % ein wichtiges Kriterium ihrer Berufswahl dar – ähnlich wie bei denjenigen ohne Migrationshintergrund (69 % bzw. 64 %) (Schmidt-Koddenberg/Zorn 2012).

Im vorliegenden Kapitel geht es um eine biografisch später liegende Zeit im Berufsorientierungsprozess, d. h. um Wünsche und Erwartungen von Jugendlichen, die als Bewerber/-innen bei der Bundesagentur für Arbeit registriert sind. Hierfür wurden im Rahmen des BIBB-Forschungsprojekts „Bildungsorientierungen und -entscheidungen von Jugendlichen im Kontext konkurrierender Bildungsangebote“ (2.1.310)163 mithilfe der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 Wünsche und Erwartungen, also das berufliche Selbstkonzept, untersucht, das Bewerber/-innen an ihren zukünftigen Beruf haben.

BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 – Erfassung berufliches Selbstkonzept

Die Teilnehmer/-innen der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 (vgl. Erläuterung in Kapitel A3.1) wurden im Rahmen des BIBB-Forschungsprojekts „Bildungsorientierungen und -entscheidungen von Jugendlichen im Kontext konkurrierender Bildungsangebote“ gebeten, Aussagen zu machen zu ihrem beruflichen Selbstkonzept („Wünschen Sie sich, dass dies auf Ihren späteren Beruf zutrifft?“). Auf einer fünfstufigen Antwortskala (nein, gar nicht; nein, eher nicht; ist mir egal; ja, eher; ja, sehr) sollten sie angeben, wie sehr sie sich bestimmte Merkmale (z. B. ein hohes Einkommen, genug Zeit für Familie, Freunde und eigene Interessen) für ihren späteren Beruf wünschen. In den Auswertungen werden die Antwortkategorien „ja, eher“ und „ja, sehr“ zusammengefasst und analysiert, wie häufig die Befragten bestimmte Merkmale als wichtig einschätzen.

Zur Definition des Migrationshintergrundes in der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2014 vgl. Erläuterung in Kapitel A4.9.

Von den untersuchten Erwartungen an die Rahmenbedingungen des künftigen Berufs sind Bewerber/-innen gute Arbeitsmarktchancen (90,0 %) besonders häufig (eher bzw. sehr) wichtig. Danach, relativ nahe beieinander, rangieren der Wunsch nach der Vereinbarkeit des künftigen Berufs mit Familie, Freunden bzw. Freizeit (86,8 %), der Wunsch nach einem hohen Einkommen im künftigen Beruf (85,8 %) sowie nach der Möglichkeit, beruflich aufsteigen zu können (85,7 %). Von den Erwartungen an die Tätigkeit im künftigen Beruf ist es rund drei von vier Jugend­lichen wichtig, mit anderen Menschen zusammenarbeiten zu können (78,6 %) bzw. eigene Vorschläge und Ideen in die Arbeit einbringen zu können (75,9 %). Seltener wird die Wichtigkeit betont, anderen Menschen durch den Beruf zu helfen (61,9 %), mit moderner Technik zu arbeiten (53,4 %) oder im Beruf etwas herzustellen bzw. zu gestalten (49,3 %).

Bei den Erwartungen an die Rahmenbedingungen wie an die Tätigkeiten des künftigen Berufs zeigen sich zum Teil Unterschiede zwischen Bewerbern/Bewerberinnen mit und ohne Migrationshintergrund. Während die Wünsche nach einem hohen Einkommen und nach Aufstiegsmöglichkeiten unabhängig von einem Migrationshintergrund als ähnlich wichtig eingeschätzt werden, bewerten Bewerber/ -innen ohne Migrationshintergrund einen Beruf mit guten Arbeitsmarktchancen sowie die Vereinbarkeit des Berufs mit Familie, Freunden und Freizeit signifikant häufiger als wichtig im Vergleich zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund Schaubild A4.9.2-1.

Mit Blick auf die Tätigkeit im künftigen Beruf sind die Erwartungen, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, mit moderner Technik zu arbeiten oder im Beruf etwas herzustellen bzw. zu gestalten, den Befragten unabhängig von einem Migrationshintergrund ähnlich wichtig. Demgegenüber äußern Bewerber/-innen mit Migrationshintergrund signifikant häufiger den Wunsch, im Beruf Menschen zu helfen bzw. einen Beruf ohne große körperliche Anstrengungen auszuüben. Hingegen ist es ihnen seltener wichtig, eigene Vorschläge im Beruf einzubringen.

Berufliche Selbstkonzepte können mit der schulischen Vorbildung in Zusammenhang stehen. Wird das Niveau der schulischen Vorbildung der Befragten berücksichtigt, so gleichen sich die Differenzen zum Teil an. Dies gilt für die Erwartung, eigene Ideen und Vorschläge im künftigen Beruf einbringen zu können: Unter Berücksichtigung der Schulabschlüsse sind keine Unterschiede nach dem Migrationshintergrund nachweisbar. Dagegen existieren bei dem Wunsch, Menschen im Beruf zu helfen, bzw. bei der Erwartung, eine körperlich nicht anstrengende Arbeit auszuüben, auch unter Kontrolle der schulischen Voraussetzungen bedeutsame Unterschiede zwischen den Befragten mit und ohne Migrationshintergrund. So äußern Bewerber/-innen mit Migrationshintergrund signifikant häufiger den Wunsch, Menschen zu helfen im Beruf – unabhängig vom Schulabschluss Schaubild A4.9.2-2.

Schaubild A4.9.2-1: Berufliche Selbstkonzepte: Erwartungen an den künftigen Beruf nach Migrationshintergrund (sehr und eher wichtig, in %)

Schaubild A4.9.2-2: Berufliche Selbstkonzepte: Erwartungen an den künftigen Beruf nach Migrationshintergrund (MH) und Schulabschluss (sehr und eher wichtig, in %)

Bei einem Hauptschulabschluss ist Befragten mit Migrationshintergrund eine herstellende bzw. gestaltende Tätigkeit im künftigen Beruf seltener wichtig als denjenigen ohne Migrationshintergrund – bei einem mittleren Abschluss hingegen gleichen sich die Einschätzungen jedoch an. Bei einem mittleren Abschluss halten Bewerber/-innen mit Migrationshintergrund gute Arbeitsmarktchancen und die Vereinbarkeit des Berufs mit Familie, Freunden bzw. eigenen Interessen signifikant seltener für wichtig als die Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund – bei einem Hauptschulabschluss bestehen keine bedeut­samen Unterschiede Schaubild A4.9.2-2.

Bildungspläne von Schulabsolventen/-absolventinnen unterscheiden sich weniger nach dem Migrationshintergrund als nach dem erreichten Schulabschluss (Diehl/Friedrich/Hall 2009). Bei den beruflichen Selbstkonzepten lassen sich Gemeinsamkeiten wie Unterschiede nach dem Migrationshintergrund der Befragten feststellen. Werden bei den divergierenden Erwartungen an den künftigen Beruf neben dem Migrationshintergrund auch die Schulabschlüsse berücksichtigt, so bestehen einige Unterschiede fort. Nur wenige Erwartungen an den künftigen Beruf divergieren nach dem Migrationshintergrund über die Schulabschlüsse hinweg. Dies betrifft den Wunsch der Bewerber/-innen mit Migrationshintergrund, im Beruf Menschen zu helfen bzw. einen Beruf ohne große körperliche Anstrengung auszuüben. Im Rahmen des BIBB-Forschungsprojekts „Bildungsorientierungen und -entscheidungen von Jugendlichen im Kontext konkurrierender Bildungsangebote“ gilt es zum einen zu analysieren, welche weiteren soziodemografischen Faktoren, wie z. B. das Geschlecht, aber auch persönliche, soziale oder institutionelle Einflüsse auf die beruflichen Selbstkonzepte von Jugendlichen wirken, und zum anderen zu rekonstruieren, wie diese die Berufswahl und das Bewerbungsverhalten beeinflussen.

(Mona Granato, Verena Eberhard)