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Berufsorientierung stellt ein äußerst lebendiges und dynamisches Arbeitsfeld dar und lässt sich als Prozess mit 2 Seiten beschreiben: Auf der einen stehen die Jugendlichen, die sich orientieren und dazu ihre eigenen Interessen, Wünsche und Kompetenzen kennenlernen müssen. Auf der anderen Seite stehen Bedarf und Anforderungen der Berufs- und Arbeitswelt. Angebote der Berufsorientierung unterstützen junge Erwachsene, diesen Prozess zu meistern.

Die Jugendlichen stehen vor der Herausforderung, auf dem Weg zum Erwachsenwerden einen eigenen Standort zu bestimmen und ihren Lebens- und Berufsweg zu planen. Es geht um die „Herstellung einer Balance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit (Selbstpositionierung) sowie verschiedenen Verselbständigungsprozessen“ und um Verantwortungsübernahme (Berngruber/Gaupp 2017). Berufsorientierung kann also als Teilprozess des Erwachsenwerdens betrachtet werden, und ein gelingender Übergang in die Berufswelt ist von großer Bedeutung für die psychosoziale Identitätsbildung (vgl. Erikson 1977). Diese Auseinandersetzung ist umso wichtiger, als die Berufsfindung und Berufswahlentscheidung kein singuläres Ereignis (mehr) darstellt. Vielmehr geht es um die Entwicklung von (Berufswahl-)Kompetenzen, die auf immer neue berufliche Ereignisse und wechselhafte Erwerbsbiografien vorbereiten. Daher müssen Angebote der Berufsorientierung Jugendliche in ihrer Phase der beruflichen Orientierung und Entwicklung als Individuum fokussieren und passgenaue pädagogische Angebote unterbreiten (Bojanowski/Eckert 2012).

Auch Wirtschaft und Berufsbranchen haben aktuell ein großes Interesse an der beruflichen Orientierung junger Erwachsener, um so frühzeitig einem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Eine gute berufliche Orientierung dient zudem der Vermeidung frühzeitiger Lösungen von Ausbildungsverträgen; denn falsche Vorstellungen von Berufen und Betriebsrealitäten stellen eine Hauptursache für Ausbildungsabbrüche dar (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2009). Insofern spielen Betriebe und Unternehmen als Anbieter für betriebliche Phasen und berufliche Erfahrungen eine wichtige Rolle im Berufsorientierungsprozess. Danach gefragt, welche Informationsquellen sie im Prozess der beruflichen Orientierung als besonders hilfreich empfunden haben, gaben 2014 drei Viertel der befragten Schüler/-innen ihr Betriebspraktikum an (Vodafone Stiftung 2014).

Berufsorientierung lässt sich also als Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen diesen beiden beschriebenen Seiten verstehen. Die jungen Erwachsenen müssen dabei immer wieder ihre subjektiven Voraussetzungen reflektieren und zu den von außen gestellten Anforderungen in Beziehung setzen. „Ob der Übergang (in Ausbildung) erfolgt, hängt vom Passungsgrad zwischen den spezifischen Interessenlagen beider Seiten ab“ (Ulrich 2018). Dieser wird zudem von den sich wandelnden gesellschaftlichen Werten und Normen beeinflusst. Gleichzeitig haben gerade in Bezug auf den Ausbildungsmarkt regionale Bedingungen große Auswirkungen, da das Verhältnis von Angebot und Nachfrage regional sehr stark variieren (vgl. Kapitel A1).323 Darüber hinaus erhöht sich die Schlagzahl technologischer und sozialer Entwicklungen im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem. All diese Aspekte und Entwicklungen haben Einfluss auf die Gestaltung der Berufsorientierung.

Berufsorientierung kann also als Prozess auf unterschiedlichen Ebenen verstanden werden: als Lernprozess, Entscheidungsprozess, Interaktionsprozess und Entwicklungsprozess (Porath 2014). Diese Prozesse können sowohl in formell organisierten Lernumgebungen als auch informell im alltäglichen Lebensumfeld stattfinden. Dabei herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass die berufliche Orientierung an den individuellen Interessen, Potenzialen und Kompetenzen ansetzen und mit einer „kontinuierlichen Beratung und Begleitung verbunden“ sein muss (Kultusministerkonferenz 2017a). Es geht also um mehr als um reine Informationsvermittlung: Es geht darum, „Betroffenheit bei den jungen Menschen zu initiieren“324, an ihren Neigungen anzusetzen, erste Erfahrungen in der Arbeitswelt zu ermöglichen sowie Lern- und Reflexionsgelegenheiten zu schaffen, damit sie den Übergang in die Berufswelt Schritt für Schritt angehen können. Die Aufgabe der Berufsorientierung liegt in der Stärkung von Selbstkenntnis, Eigenverantwortung und Entscheidungsfähigkeit, die junge Erwachsene dazu befähigen, die Klippen im Berufswahlprozess und im späteren Berufsleben zu meistern.

Je nach Bildungskontext und Institution ist neben Berufsorientierung auch von Berufswegeplanung, Berufswahlorientierung, Berufsfindungsprozess oder auch von systematischer Berufsorientierung die Rede. Fokussierte Berufsorientierung zunächst bestimmte Zielgruppen, die eine besondere Förderung in berufsorientierenden Kontexten benötigten, so setzt sich aktuell der Begriff der Berufs- und Studienorientierung (BSO) durch (siehe Zeitleiste). Darin kommt zum Ausdruck, dass Berufsorientierung ein Thema für alle jungen Erwachsenen und alle Schulformen ist. Bereits 1969 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) in der „Empfehlung zur Hauptschule“ die Notwendigkeit zur Vorbereitung Jugendlicher auf die Erwachsenenwelt, besonders auch auf das Arbeitsleben, betont. So sollte die „Arbeitslehre als Fach einen wesentlichen Teil dieser Aufgabe leisten“ (Kultusministerkonferenz 1969). Im Jahr 2009 hat sich der damalige Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs mit der Erklärung „Berufswegeplanung ist Lebensplanung“ auf ein breiteres Verständnis von Berufsorientierung geeinigt.325

Zeitleiste

  • 1969: „Empfehlung zur Hauptschule“ der Kultusministerkonferenz (KMK) (Arbeitslehre als Fach) (Kultusministerkonferenz 1969)
  • 1977: Entwicklung des Interessen-Modells RIASEC von John L. Holland
  • 1980: Start des Benachteiligtenprogramms „Richtlinie für die Förderung der Berufsausbildung von benachteiligten Jugendlichen“ (Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW))
  • Mitte 1990er-Jahre: Einführung von Kompetenzfeststellungsverfahren im Kontext Übergang Schule-Beruf für benachteiligte Zielgruppen
  • 1999: Start des BMBF-Programms „Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben“ (SWA) und dort u. a. Entwicklung des Berufswahlpasses
  • 2001: Start des BMBF-Programms: „Kompetenzen fördern – Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf (BQF-Programm)
  • 2004: „Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung zwischen der Kultusministerkonferenz und der Bundesagentur für Arbeit“ (Kultusministerkonferenz 2004, 2017)
  • 2008: Start des Berufsorientierungsprogramms (BOP) des BMBF
  • 2010: IAB-Forschungsbericht „Erweiterte vertiefte Berufsorientierung“
  • 2011: Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses „Leitlinien zur Verbesserung des Übergangs Schule – Beruf“
  • 2014: Sonderausgabe „Berufsorientierung“ der BWP des BIBB sowie der bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik
  • 2017: KMK-Beschluss „Empfehlung zur Beruflichen Orientierung an Schulen“ (Kultusministerkonferenz 2017)

Es gab weitere Beschlüsse wie die „Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung zwischen der Kultusministerkonferenz und der Bundesagentur für Arbeit“ im Jahr 2004, die im Jahr 2017 durch eine aktualisierte Version ersetzt wurde (Kultusministerkonferenz 2017b). In dieser aktuellen Fassung wird noch deutlicher herausgearbeitet, dass Konzepte aufeinander abgestimmt und systematisiert sein müssen und die Berufsorientierung in den Curricula der Schulen verankert sein soll. Bei der Allianz für Aus- und Weiterbildung heißt es, dass die Länder, aufbauend auf ihren Strukturen mit dem Bund, gemeinsam ein kohärentes Konzept für die Berufsorientierung entwickeln sollen.326 In diesem Rahmen wurden bereits Vereinbarungen zwischen den Ländern und dem Bund sowie der BA abgeschlossen (vgl. Kapitel C2.2). Die Grundsätze zu Zielen, Maßnahmen und zur Umsetzung der beruflichen Orientierung an Schulen hat die KMK in ihrer Empfehlung vom Dezember 2017 aktualisiert (Kultusministerkonferenz 2017a).

Die Schlüsselrolle für die berufliche Orientierung wird im Kontext von formalen Bildungsprozessen den Schulen zugeschrieben. Dies soll nicht die Bedeutung von informellen (Berufsorientierungs-)Prozessen und der Sozialisationsinstanzen wie Elternhaus oder Freundeskreis schmälern (vgl. Kapitel C3.2), denn einen berufsorientierungsfreien Raum gibt es in der Entwicklung von jungen Erwachsenen nicht. 

Die Schulen müssen ein über mehrere Schuljahre angelegtes Konzept in den Unterrichtsablauf integrieren. Die Feststellung individueller Kompetenzen und aufbauend darauf die Erstellung eines individuellen Förderplans gehören dabei mittlerweile zum Standard. Zudem müssen Schulen in diesem Kontext verstärkt mit außerschulischen Partnern zusammenarbeiten wie z. B. Unternehmen, Kammern oder Jugendhilfeträgern. 

In den nachfolgenden Kapiteln wird das Thema Berufsorientierung im engeren Sinne auf 2 Ebenen behandelt. In Kapitel C2 werden zunächst Programme und die Praxis in den Fokus genommen. In einer Übersicht über Programme von Bund und Ländern zur Berufsorientierung werden Merkmale dieser Aktivitäten beschrieben (Kapitel C2.1), um dann in einem zweiten Schritt näher auf strukturelle Aspekte und die oben genannten Bund-Länder-Vereinbarungen einzugehen (Kapitel C2.2). Ein spezifischer Blick liegt dann auf einem bundesweiten Programm des BMBF, dem Berufsorientierungsprogramm (BOP), indem vorliegende Evaluationsergebnisse dargestellt werden (Kapitel C2.3).

In Kapitel C3 werden zentrale Forschungsergebnisse des BIBB beleuchtet. Zunächst werden ausgehend von zunehmenden Passungsproblemen auf dem Ausbildungsmarkt ausgewählte Ergebnisse des BIBB-Forschungsprojekts  „Bildungsorientierungen und -entscheidungen Jugendlicher im Kontext konkurrierender Bildungsangebote“ dargestellt (Kapitel C3.1). Darüber hinaus wird in einer Sonderauswertung der Einfluss von Familie und Freunden auf die Berufswahl thematisiert (Kapitel C3.2).

Zum Schluss wird in Kapitel C4 ein zusammenfassendes Fazit gezogen und ein Blick nach vorne gerichtet.327 

(Frank Neises)