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Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung Prof. Dr. Johanna Wanka

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Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Thema Lesen und Schreiben lernen und Lesen und Schreiben nicht können ist ein sehr emotionales, ein bewegendes Thema. Es gibt viele Geschichten, die zeigen, dass es funktionieren kann, und die Mut machen. Ich habe zum Beispiel in Braunschweig im Volkshochschulbereich eine Mutter mit Migrationshintergrund erlebt, die als junge Frau aus der Türkei gekommen ist. Sie hatte dort eine Schulbildung angefangen, dann aber nicht richtig weitergelernt. Sie war mittlerweile ungefähr 50 und hatte drei Kinder, die alle studiert haben. Als die fertig waren, hat sie einfach gesagt, jetzt will sie lesen und schreiben lernen, hat sich geoutet und hat es auch geschafft. Oder ein Beispiel aus Oldenburg: Dort haben sich Menschen, die Kurse besucht haben, die auf dem Weg sind oder lesen und schreiben gelernt haben, zusammengeschlossen und versuchen nun andere zu überzeugen und zu erreichen. Mir ist noch ein Tischler eindrücklich in Erinnerung, der sagte, für ihn ist es wie ein neues Leben. Er kann jetzt zum Beispiel immer essen, was er möchte. Früher hatte er, als er in einer Gaststätte war, immer das bestellt, was der Vormann bestellt hat. Das sind ganz einfache Dinge, die zeigen, wie wichtig es für die betreffenden Menschen ist, lesen und schreiben zu lernen und damit auch Lebensqualität zu steigern.

I. Etwa 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter gelten in Deutschland als funktionale Analphabeten. Als die Zahl kam, war das für uns alle eine erschreckende Zahl. Wir wussten, dass es das gibt. Wir wussten, dass es nicht ganz wenige sind, aber diese Zahl hat uns doch betroffen gemacht. Und wir haben reagiert.

Vor zwei Jahren, als ich in der Türkei war und mit dem türkischen Bildungsminister gesprochen habe, und er thematisierte, dass es in der Türkei ein großes Thema in Anatolien und woanders ist, erzählte ich ihm, wie hoch der Prozentsatz in Deutschland ist – 14 Prozent funktionale Analphabeten im erwerbsfähigen Alter. Er war völlig verblüfft und sagte, jetzt habe er ein ganz anderes Bild von Deutschland. Er war erstaunt, wobei es nicht nur in Deutschland sondern auch in anderen Industriestaaten ähnliche Zahlen gibt.
Die Menschen, die hinter dieser Zahl stehen, entwickeln oft Ausweichstrategien, haben Angst vor Entdeckung, haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, können – was ganz besonders schlimm ist - nicht vollständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Wir reden dabei nicht von Menschen, die neu in unser Land geflüchtet sind. Wir reden von Menschen, die meist hier aufgewachsen sind. Darunter sind Menschen, die Deutsch als Muttersprache gelernt haben und auch Menschen mit Migrationshintergrund.
Die Zahl 7,5 Millionen stammt aus dem Jahr 2011. Damals hat sie die Universität Hamburg in der Leo. Level-One Studie ermittelt. Bund und Länder haben sich daraufhin zusammengetan und die gemeinsame Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland vereinbart. Heute wollen wir sie in die Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung überführen.

II. In den vergangenen Jahren haben wir bereits viele Maßnahmen angestoßen, vieles erprobt, vieles angeregt. Und wir mussten auch Wissen generieren; warum Menschen nicht lesen und schreiben können. Es waren ja auch junge Menschen dabei, die unser Schulsystem durchlaufen haben, bei denen man sich fragte, wie kann das überhaupt funktionieren, dass man eine zehnte Klasse abschließt, ohne richtig lesen und schreiben zu können.

Die Studien waren notwendig und haben Ergebnisse gebracht, die wir so nicht erwartet hatten, und die Konsequenzen haben für die Dekade und die Maßnahmen, die wir ergreifen. Wir sind zum Beispiel davon ausgegangen, dass die meisten Analphabeten diesen Umstand verbergen – das ist ja auch so - und dass sie höchstens einen oder zwei Menschen ins Vertrauen ziehen. Mittlerweile haben die Untersuchungen gezeigt, dass das mitwissende Umfeld sehr viel größer ist. Es wissen im privaten familiären Umfeld wie auch im Arbeitsalltag recht viele Mitmenschen davon. In einer repräsentativen Umfrage haben 40 Prozent der Teilnehmer angegeben, eine oder mehrere Personen zu kennen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können.

Das heißt, der Kreis der Mitwisser ist größer. Das ist aber auch eine positive Nachricht. Damit hat man viel mehr Menschen, die Einfluss nehmen können, die vielleicht auf das, was wir anbieten, reagieren und Analphabeten gezielt ansprechen und motivieren können.

Ein wichtiger Ansprechpartner sind die Arbeitgeber. Wir wollen sie motivieren, Lernangebote zu unterstützen oder am besten selbst anzubieten. Unsere Erfahrungen sind gut: Wenn Arbeitgeber angesprochen werden, wenn sie auf das Problem aufmerksam gemacht werden, erkennen sie, wie viel besser und sicherer ihre Mitarbeiter sind, nachdem sie erfolgreich Alphabetisierungskurse besucht haben. Inzwischen kennen wir auch die Branchen, die besonders betroffen sind: zum Beispiel das Hotel- und Gaststättengewerbe oder der landwirtschaftliche Bereich und der Gartenbau. Da gibt es hochqualifizierte Menschen aber auch einen großen Anteil an Menschen, die keine sehr hohe Qualifikation haben und darunter sind mehr funktionale Analphabeten als in anderen Branchen.

Wenn man sich den ländlichen Raum vorstellt und die Art und Weise, wie man dort miteinander lebt, dann brauchen wir dort zielgenaue Angebote, um Menschen zu erreichen. Deshalb entwickeln wir mehr erwachsenengerechte Unterrichtsmaterialien. Interessante lebensweltliche Themen und didaktisch angemessene Aufbereitung steigern Motivation und Lernbereitschaft.

Es wurde speziell für die Zielgruppe eine Lehrmethode entwickelt, die es den Betroffenen ermöglicht, anspruchsvolle Lernaufgaben besser zu lösen und mehr Ausdauer in den Lernprozess zu investieren. Dieses metakognitive Verfahren wollen wir in dieser Dekade weiter fördern. Die Reihe der bereits bestehenden Rahmencurricula zum Lesen, Schreiben und Rechnen wurde um branchenspezifische Module der Altenpflege und der Metallverarbeitung ergänzt. Solche Spezialmodule, die dann auch auf die Lebenswelt, die Berufswelt abheben, wollen wir verstärkt entwickeln lassen.

Für die Zukunft kann uns die Digitalisierung zur Hilfe kommen – in mehrfacher Hinsicht. Computer können gute Lernprogramme anbieten, die sehr niedrigschwellig zu Hause oder im privaten Umfeld genutzt werden können und sich an individuelle Fähigkeiten anpassen, so dass das neben dem Kurs, den man vielleicht in einer Einrichtung besucht, eine sehr starke Unterstützung ist oder manchmal die ersten Schritte ermöglicht, um sich an das Lesen und Schreiben heranzutasten.

Motivation erreicht man aber nicht nur durch gute Lehrmethoden oder erwachsenengerechte Unterrichtsmaterialien, sondern auch über Themen, die eine intrinsische Lernmotivation auslösen. Das sind in der heutigen Zeit Themen der Gesundheit und Ernährung, der Umgang mit Geld und eben der Umgang mit digitalen Medien und Kompetenz mit digitalen Geräten. Die digitale Kompetenz ist zu einem Bereich der Grundbildung geworden.

In der digitalen Wissensgesellschaft wird es noch schwieriger werden, zu verdecken, dass man nicht gut lesen und schreiben kann. Es gibt immer weniger Berufe, die ganz auf den Computer verzichten. Auch im Handwerk, im Malerberuf, bei Tischlern wird der Computer benötigt.

Wichtig ist bei all dem, dass Betroffene wissen, es gibt Hilfsangebote, es gibt Kursangebote, es gibt vielfältige Möglichkeiten. Deswegen gibt es seit 2012 die Informationskampagne „Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“. Es gibt das Alfa-Telefon. Wir haben im Kino, Fernsehen und auch im Hörfunk verschiedene Spots geschaltet und die Resonanz getestet und gefragt, kommt das an, oder freuen nur wir uns an dem schönen Spot. Wir sind ermutigt worden. Im besten Fall bewegen diese Spots den Betroffenen aber vor allen Dingen auch das Umfeld. Ich glaube, dass dadurch viele Angehörige, Bekannte oder Vorgesetzte aktiv geworden sind.

III. Lesen und schreiben sind Kulturtechniken. Sie helfen uns, am gesellschaftlichen Leben ohne Einschränkungen teilzuhaben und unseren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Die individuelle Selbstverwirklichung – also ganz altmodisch das Lebensglück – hängt davon ab, dass man sich nicht immer verstecken muss, und dass man sich nicht immer Ausweichszenarien ausdenken muss. Die Anstrengung, lesen und schreiben zu lernen, ist geringer, als jahrzehntelang zu verbergen, dass man es nicht kann. Was für Betroffene auch wichtig ist: Wenn sie erkennen, dass es ihre Kinder im Leben schwerer haben, wenn Mutter und Vater oder einer von beiden nicht lesen und schreiben kann.
Die Chancengerechtigkeit weiter zu verbessern, ist und bleibt ein zentrales Ziel unserer Bildungspolitik. Eltern dazu zu bewegen, mehr Grundbildung zu erwerben, ist ein Weg und auch für die Kinder ganz wichtig. Es geht aber nicht nur um eine Art Reparaturbetrieb. Noch wichtiger ist die Prävention. Ich sagte es schon, dass Jugendliche, die die Schule durchlaufen haben, trotzdem zu diesen 7,5 Millionen gehören. Das ist etwas, das man eigentlich nicht erklären kann. Deswegen setzen wir bei den Kindern direkt an, mit vielen wirkungsvollen Maßnahmen.

Ich nenne ein oder zwei Beispiele aus unserem Themenbereich aus meinem Bundesministerium:

  • Die frühe Sprach- und Leseförderung von Kindern durch das Programm Lesestart. Zuerst gab es die Sets für die ganz Kleinen bei den Kinderärzten, für die Eltern und Großeltern zum Mitnehmen. Ab diesem Schuljahr haben wir es ausgedehnt. Da können sich alle Erstklässlerinnen und Erstklässler über das neue Lesestart-III-Set freuen. Es hilft, Kinder frühzeitig und ohne Zwang mit Büchern vertraut zu machen und in ihrer Sprachfähigkeit zu stärken. Wir hatten vor kurzem eine sehr schöne Veranstaltung mit der Stiftung Lesen, bei der Menschen ausgezeichnet wurden, die sich gerade um das Vorlesen intensiv bemühen. Oder unser Programm „Bildung durch Sprache und Schrift“, BISS, also das Programm, das Bund und Länder gemeinsam aufgelegt haben.
  • Ein anderes Programm, bei dem Sie vielleicht gar nicht so schnell an Analphabetismus denken, ist das Programm Kultur macht stark. 230 Millionen haben wir investiert, das Programm geht zu Ende, der Anschluss ist gesichert. Bei diesem Programm war der Anspruch, dass man Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern in besonderem Maße erreicht. Nun kann man sich so etwas vornehmen, ein Programm konzipieren. Ob es funktioniert, ob man wirklich die Zielgruppe erreicht, ist nicht sicher. Hier haben wir nach der Mitte der Laufzeit eine wissenschaftliche Evaluation durchführen lassen mit dem Ergebnis: Es erreicht wirklich die, die wir erreichen wollten. Man kann bei „Kultur macht stark“ Kinder an Tanzen, an Singen, an Zirkus aber eben auch an Theaterspielen, an Lesen heranführen. Deswegen freue ich mich, dass wir beschlossen haben, das Programm weiterzuführen, um damit gerade Kinder und Jugendliche, die am Anfang ihrer Biographie Nachteile haben, zu erreichen.

Das waren nur zwei Beispiele aus dem Bereich der Leseförderung. Es gibt weit mehr, und sie zeigen Erfolge. Wenn wir uns an die PISA-Ergebnisse erinnern: Es war ja eine Katastrophe, als die ersten PISA-Ergebnisse kamen - in Mathe und in Deutsch nicht Weltmeister wie im Fußball sondern unterhalb des Durchschnitts. Wir haben viel schneller, als wir das in der Kultusministerkonferenz damals geglaubt haben, Verbesserungen erzielt bei PISA – sehr viel schneller allerdings in Mathematik, beim Lesen hat es viel länger gedauert. Das hängt damit zusammen, dass Mathematik sehr stark durch die Schule konzentriert vermittelt wird. Da kann man sich neue Programme überlegen. Aber lesen hat etwas mit ganz vielen Komponenten zu tun. Da sind die Eltern, die Großeltern, wird vorgelesen oder wird nicht vorgelesen – da sind viele andere Dinge mit ausschlaggebend. Deswegen ist es vielleicht auch erklärbar, dass es dort ein längerer Prozess war.

IV. Die Herausforderung, die Bund und Länder mit der Dekade für Alphabetisierung angehen, ist groß. Mein Haus wird in dieser Zeit die Alphabetisierung mit mindestens 180 Millionen Euro fördern und dazu kommen die Gelder, die die Länder zur Verfügung stellen.

Zentrale Ziele der Dekade sind:

  • Das Familien- und Arbeitsumfeld und die Öffentlichkeit noch stärker für das Thema zu sensibilisieren;
  • dauerhafte und tragfähige Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit als Teil des Weiterbildungssystems zu schaffen;
  • die Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen Netzwerk aller Akteure der Alphabetisierungsarbeit auszubauen.

Wir wollen erreichen, dass mehr Menschen den Mut finden, auch in späteren Lebensphasen ihre Fähigkeiten im Lesen und Schreiben zu verbessern. Und natürlich stehen die von uns geförderten Programme auch für alle, die neu in unser Land gekommen sind, zur Verfügung.

Erfolgreich werden wir allerdings nur sein, wenn wir alle gemeinsam wirken. Nicht nur Bund und Länder. Wir müssen alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren. Viele gesellschaftliche Gruppen, Vereine und Verbände sind bereits aktiv, bei anderen Verbänden – ich denke da zum Beispiel an die Arbeitgeberverbände – sehe ich noch Luft nach oben. Wir wollen auch sie für die Alphabetisierung gewinnen. Letztlich ist das in ihrem eigenen Interesse. Die Humanressource ist das Entscheidende, was wir in Deutschland haben. Deswegen sind Menschen, die sich mit ihrem Fachwissen und ihren Fähigkeiten in der Wirtschaft einbringen, unverzichtbar.

Sie kennen, hoffe ich, unseren letzten Kinospot: Ein Vater steht auf dem Fünf-Meter-Brett und hat Angst. Aber er bringt den Mut auf und springt ins kalte Wasser. Der Spot ist nur 30 oder 40 Sekunden lang, aber wer ihn sieht, kann mitfühlen, wie schwer eine solche Entscheidung sein kann, wie viel Angst man überwinden muss. Und dieser Sprung ins kalte Wasser ist auch nur der Anfang von einem mühevollen Prozess. Aber dieser mühevolle Prozess lohnt sich, denn dadurch eröffnen sich viele neue Türen und Chancen. Wir wollen mit der Dekade für Alphabetisierung viele solcher Türen aufstoßen.

Deswegen ist es mir ein Anliegen, denjenigen, die heute hier sind, die sich in diesem Bereich engagieren, zu danken für das, was geleistet wurde, aber auch sagen: Ohne Sie alle wird es nicht funktionieren.