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Blick über den Tellerrand

13.11.2025

Auf einer viertägigen Reise tauschte sich BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser in Brüssel und Paris mit Fachleuten aus der französischen und europäischen Berufsbildung aus. Dabei wurde deutlich: Kernthemen wie Fachkräftemangel, Attraktivität der Berufsbildung, Bildungsmobilität und lebenslanges Lernen sind miteinander verschränkt – und sich darüber auszutauschen trägt zu guten Lösungen bei.

Drei Personen stehen lächelnd nebeneinander
Von links nach rechts: Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des BIBB, Frau Lemarchand von der Caisse des Dépôts et Consignations und Isabelle Le Mouillour (BIBB).

Mit Herausforderungen hat die berufliche Bildung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu kämpfen. Die sehen zwar überall etwas anders aus, lassen sich aber im Großen und Ganzen etwa auf den folgenden Nenner bringen: Fachkräftemangel und demografischer Wandel vor dem Hintergrund der ökologischen und digitalen Transformation. Für BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser lag es daher nahe, sich im europäischen Ausland umzuhören, wie man dort mit den aktuellen Herausforderungen umgeht – und im Idealfall Anregungen für gute Lösungsansätze mit nach Hause nehmen. In einer viertägigen Reise nach Brüssel und Paris besuchte Prof. Esser daher im Oktober 2025 Institutionen der Berufsbildung und Bildungspolitik der EU und Frankreichs. Dieser Austausch erwies sich als durchaus lohnend, wie Esser nach Abschluss der Reise betonte: „Es ist Zeit, in Lösungen zu denken! Zu erfahren, wie das nahe Ausland mit den Herausforderungen umgeht, kann für uns als Inspiration dienen, auch wenn nicht alle Konzepte genau auf den deutschen Kontext übertragbar sind“.

Den Kompetenzspagat meistern

Für eine ganzheitliche Betrachtung der Berufsbildung sind die europäischen Rahmenbedingungen natürlich entscheidend, und folgerichtig führte die erste Station der Reise nach Brüssel. Dort tauschte sich der BIBB-Präsident zunächst mit Tim Krögel von der Vertretung des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) bei der EU aus. Dabei ging es unter anderem um die Folgen für die Berufsbildung, die sich aus Netto-Null Gesetzgebung der EU (NZIA) und der EU-Bildungsstrategie Union der Kompetenzen ergeben. Eine Schwierigkeit dabei: der Spagat zwischen ganzheitlichen Qualifikationen und Kompetenzen, die kurzfristig am Arbeitsmarkt benötigt werden. Beide Gesprächspartnern zeigten sich jedenfalls einig, dass breite und fundierte Qualifizierungen von variabler Dauer ermöglichen werden sollten. Auch kürzere Angebote könnten dazu beitragen bei Unternehmen kurzfristigen Fachkräftemangel zu lindern. „Eine Herausforderung dabei ist es, Flexibilität in den Qualifizierungswegen im Einklang mit dem Berufsprinzip und der Qualität der Aus- und Weiterbildung zu bringen“, so Prof. Esser.

Solche Qualifizierungsangebote können also dazu beitragen, den künftigen Fachkräfte- und Kompetenzbedarf zu decken. Dafür ist auch ein anderer Aspekt entscheidend, nämlich die Attraktivität der Berufsbildung. Schließlich landen immer mehr junge Erwachsene in Deutschland gar nicht in der Berufsbildung, wie erst jüngst der Berufsbildungsbericht 2025 wieder belegte. Unter anderem über dieses Thema sprach BIBB-Präsident Esser mit Anna Banczyk und Andrea Leruste von der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission. Um das zu ändern, müssten im Sinne der Inklusion auch Zielgruppen jenseits geläufiger Stereotypen erschlossen werden, auch Erwachsenen sollten Umschulungen und Weiterqualifizierungen gezielt angeboten werden. Weitere Bausteine: Die bessere Verknüpfung von Aus- und Weiterbildung im Sinne von Lernpfaden und gute Berufsberatung für Eltern und Schüler, um die Wahrnehmung von Berufsbildung in der europäischen Bevölkerung zum Positiven zu ändern.

„Es ist Zeit, in Lösungen zu denken! Zu erfahren, wie das nahe Ausland mit den Herausforderungen umgeht, kann für uns als Inspiration dienen, auch wenn nicht alle Konzepte genau auf den deutschen Kontext übertragbar sind“.

Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB)

Der EQR: Als Vergleichsinstrument noch ausbaufähig

Ein weiteres Thema im Gespräch mit den beiden EU-Vertreterinnen: Die Übertragbarkeit von Kompetenzen innerhalb Europas und der Europäische Qualifikationsrahmen EQR. Ab 2026 soll der EQR stärker als bisher die Vergleichbarkeit der Qualifikationen zwischen den Mitgliedstaaten ermöglichen. „Das ist auch notwendig, denn bislang erfüllen der EQR und die nationalen Qualifikationsrahmen diese Funktion als Transparenz- und Vergleichsinstrumente noch nicht vollständig“, wie BIBB-Präsident Esser unterstrich. Zudem sei die Qualität und die Transparenz der Zuordnungsverfahren zum EQR und damit das Vertrauen in der Zuordnung in den nationalen Qualifikationsrahmen aus Sicht anderer Mitgliedsstaaten weiterhin problematisch. Ein Ergebnis des Gespräches: Vertrauen, Transparenz und Übertragbarkeit der Qualifikationen und Kompetenzen sind Bausteine zur Unterstützung der innereuropäischen Mobilität. Und die ist nötig, um Chancen sowohl für Arbeitnehmer/innen als auch für Arbeitgeber zu schaffen und den europäischen Binnenarbeitsmarkt aufzubauen.

Wie länderübergreifender Austausch nicht nur zu Mobilität, sondern auch zu politischer Stabilität in politisch instabilen Zeiten beitragen kann, zeigen die Mobilitätsprojekte des deutsch-französischen Jugendwerkes (DFJW). Denn in denen lassen sich Demokratiebildung und Berufsbildung sehr gut erfahren, so der Tenor des Gespräches von Prof. Esser mit Frau Schmidt vom DFJW. Die Berufsbildung ist einer der Förderschwerpunkte des DFJW, und eine der Stärken liegt dabei in der Koppelung von Berufsorientierung und interkulturellem Lernen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf denjenigen, die weder erwerbstätig noch in Aus- oder Weiterbildung sind (NEETS). Die Berufsbildungszentren in Frankreich wurden seit der dortigen Reform 2018 stark modernisiert, die Umstellung der Finanzierung der Berufsbildung hat zu einer raschen Zunahme der Anzahl der Auszubildenden geführt. Trotz der offenkundigen Vorteile von Mobilitätsprojekten in der Berufsbildung – egal, ob gefördert über die DFJW oder über Erasmus plus – bedeuteten Mobilitätsprojekte allerdings weiterhin einem hohen Bürokratieaufwand, so Schmidt.

Ein Schub für Lebenslanges Lernen durch individuelle Lernkonten

Wie die französiche Reform von 2018 Raum für einen innovativem Umgang mit der Finanzierung des lebenslangen Lernens schaffte, davon konnte sich der BIBB-Präsident in einem Gespräch bei der Caisse des Dépôts et Consignations (CDC) überzeugen, der zentralen Einrichtung zur Finanzierung der Berufsbildung in Frankreich. 2018 wurden in Frankreich individuelle Lernkonten (Compte personnel de formation, kurz CPF) für Auszubildende und Erwerbstätige eingeführt, die der europäische Rat 2022 auch anderen Mitgliedsstaaten empfahl. Während des Gespräches mit Prof. Esser demonstrierte Frau Lemarchand von der CDC die Funktionsweise anhand ihres eigenen Online-Lernkontos: als Angestellte erhält sie zur Ko-Finanzierung ihres lebenslangen Lernens pro Jahr 500 Euro durch den französischen Staat. In Frankreich wird mit dem ersten Arbeits- oder Ausbildungsvertrag für jeden und jede ein solches Konto eröffnet. Zwischen 2020 und 2024 wurden so über sieben Millionen Bildungsmaßnahmen bei Durchschnittskosten von 1.428 Euro finanziert. Über ein nationales digitales Portal sollen künftig Weiterbildungsangebote mit den digitalen Lernportfolios und Lebensläufen der Nutzerinnen und Nutzer gekoppelt werden.

Für BIBB-Präsident Esser zeigen all diese Gespräche, dass das gemeinsame Reflektieren und Arbeiten eine Quelle für Innovationen in der beruflichen Erst- und Weiterbildung sein kann. Weitere Fachgespräche sind in der Planung.